Die Kornmuhme (German Edition)
auch an der riesigen Eiche, die einen
so großen Hohlraum barg, dass ein erwachsener Mann hätte aufrecht darin stehen
können. Die Bäume des Raunewald waren allesamt riesig und ausladend, aber
dieser war wirklich etwas ganz Besonderes. David hatte ihn mehrere Male
umrundet, und seine zerfurchte, ungewöhnlich dicke Rinde bestaunt, bevor er
weiter lief. Nun musste er den kleinen Bach finden, der auf die nahende
Waldgrenze hindeutete. Da er die Sonne hinter den Wolken nicht ausmachen
konnte, um sich an ihrem Stand zu orientieren, verließ er sich auf die gen
Norden zeigenden Wetterseiten der windflüchtenden Bäume, an denen das Moos
wuchs.
Nach ein paar Stunden wurde es
etwas wärmer. Der Schnee begann zu schmelzen. Trotzdem überkamen ihn Zweifel.
War er noch richtig? Nicht, dass er wieder zurücklief! Er kniete sich nieder
und bat Gott mit aneinandergelegten Handflächen um ein Zeichen. Und noch ehe er
sein Gebet beendet hatte, raschelte es neben ihm. Als er die Augen öffnete, sah
er ein Eichhörnchen nicht weit von ihm im Unterholz sitzen und im Boden nach
alten Eicheln scharren. Er stand auf und ging darauf zu. Es huschte davon, und
sein Blick fiel auf Pferdespuren im Schneematsch. Es mussten die Spuren von
Gerolfs Pferd sein. Er war also richtig gelaufen! Er hätte ihnen von vorne
herein folgen sollen, aber in seiner Aufregung hatte er das ganz vergessen, und
auch Reinulf hatte nicht daran gedacht. Mit neuem Mut machte er sich wieder auf
den Weg.
Wieder vergingen einige Stunden,
und er setzte sich das erste Mal um die Mittagszeit zu einer kleinen Rast auf
einen Baumstumpf. Ihm war bitterkalt und er holte zittrig ein Stück Fladenbrot
hervor, das die Mutter ihm mitgegeben hatte.
Plötzlich hörte er jemanden
kommen. Es waren unverkennbar die Schritte eines Menschen im Unterholz, und
David erstarrte mit heißem Schrecken. Dann glitt er blitzartig hinter den
Baumstumpf, auf dem er saß. Er wagte es nicht, sich zu rühren, bis er es
schließlich doch schaffte, seine Lähmung zu überwinden. Er richtete sich auf
und lugte aus seiner Deckung hervor. Nicht weit von ihm entfernt sah er jetzt
eine seltsam gebückt gehende, unheimliche Gestalt ungelenk vorüber wanken. Als
sie näher kam, sah er, dass es ein Mann mittleren Alters war, dessen Kleider in
Fetzen an ihm herunterhingen und dessen Haare und Bart sich zu einer dreckigen
Matte verfilzt hatten – gerade so als hätte er sich seit Jahren nicht gekämmt.
Er war so dreckig, dass die Farben
seiner Kleidung nicht mehr auszumachen waren. Als er sich niederkniete, griff
er in eine morsche Borke, die am Boden lag und brach sie auf. Dann stocherte er
mit seinen langen Fingernägeln auf der Suche nach Käfern und Asseln in dem Holz
herum und aß alles, was er zu greifen bekam. David war zunächst verwirrt. Dann
jedoch begriff er, dass der Mann in einer Art Trance zu sein schien.
Er betrachtete ihn genauer und
konnte eine goldene Fibel an seiner Schulter herab baumeln sehen, die einst,
vor urlanger Zeit, an sein Gewand gesteckt worden war, um es zusammenzuhalten.
Der Gedanke durchfuhr ihn, dass dies wohl einst ein wohlhabender Kaufmann
gewesen sein musste, der mit der Gryla einen unguten Pakt eingegangen war.
Vielleicht hatte er seine Seele zum Pfand eingesetzt und nicht sein Leben - war
dann womöglich nach vielen Jahren des erfolgreichen Handels unachtsam geworden
… hatte vielleicht nur einen einzigen, fatalen Fehler begangen - auf der Reise
getrunken und die Landesgrenzen nicht beachtet oder seine Abgaben nicht
geleistet. Nun war er jedenfalls auf Lebzeiten dazu verdammt, im Raunewald als
willenloser Scherge der Alten umherzuirren.
Bald ging der Mann in einer
anderen Richtung davon, und David atmete hörbar auf. Doch der Mut war ihm nun
endgültig geschwunden. Ängstlich setzte er seinen Weg fort, horchte auf jedes
Geräusch und versuchte, so leise wie möglich zu gehen, auch wenn der
verwilderte Mann schon längst außer Hörweite war.
Plötzlich knackte es nicht weit
von ihm im Unterholz, und schon durchfuhr ihn erneut ein tiefer Schrecken. So
sehr er dagegen ankämpfte, die Alte stahl sich unaufhaltsam in seine Gedanken.
Seine Ängste flüsterten der Gryla nun leise ins Ohr, dass er hier war, und dass
sie doch aus ihrem todesähnlichen Schlaf erwachen möge ... und sie erwachte!
Er fühlte es unmittelbar und
begann zu rennen, bis seine Lungen brannten. Dann plötzlich bemerkte er
zwischen den Bäumen ein Huschen. Er blieb abrupt stehen und starrte
Weitere Kostenlose Bücher