Die Kornmuhme (German Edition)
auf
eine Gelegenheit wartete, ihr eins auszuwischen. Er lebte in den unendlichen
Weiten der Bergwälder, und wenn David es schaffte, aus dem Raunewald
herauszutreten und dreimal Zagels Namen zu rufen, so würde der Hüter der Berge
herbeieilen und sein Anliegen anhören.
Ranja wünschte sich so sehr, mit
ihrem Bruder mitgehen zu können, aber das konnte sie nicht. Niemand konnte das.
Nur ein unschuldiges Kind, das dem Bösen in seinem kurzen Leben sicherlich noch
nie Einlass in seinen Geist gewährt hatte, war geschützt vor Grylas Angriffen
am Tage. Nachts wäre David genauso verloren gewesen, so wie jeder andere.
>>Es ist soweit! <<,
sagte der Vater. Ranja schreckte aus ihren Gedanken hoch, und auch ihre Mutter
fuhr zusammen und fixierte das Kind.
>>Wir müssen ihn nun fortschicken<<,
sagte Reinulf ernst und schaute Lioba eindringlich an. Ihr Blick ging für
einige Momente ins Leere. Dann nickte sie langsam, zog den schweigenden Jungen
zu sich und umarmte ihn lange und immer wieder seufzend. Danach nahm Reinulf
seinen Sohn ein letztes Mal in die Arme und schob ihn gleich darauf eilig zur
Tür hinaus. Tapfer stapfte der Junge durch den Schnee und überquerte die Weide,
begleitet von den bangen Blicken seiner Liebsten. Dann lenkte er seine Schritte
in Richtung Waldrand. Ranjas Eltern starrten ihm noch lange nach, auch als sie
ihn im Schneegewirr schon längst nicht mehr ausmachen konnten.
David marschierte in Richtung
Süden. Er hatte Angst. Obwohl er es seinen Eltern nicht hatte zeigen wollen,
fürchtete er sich doch unendlich vor der alten Gryla. Die Hex‘, wie sie alle
nur nannten, begleitete ihn schon sein ganzes Leben. Irgendwann hatte er
begriffen, dass alle ihre Hoffnung in ihn gesetzt hatten, auch wenn sie
versucht hatten, ihn das nicht spüren zu lassen. Doch schon sein Name hielt ihm
seine Bürde immer vor Augen: David – Besieger des Goliath.
Der Wind blies durch die Bäume,
und David zurrte seinen Umhang noch enger. Seine Mutter hatte ihm einen Mantel
aus Fell genäht, der sehr warm hielt. Seine Schuhe aus Hirschleder hatte der
Vater mit Birkenpech bestrichen, so dass an den Nähten keine Feuchtigkeit
eindringen konnte. Seine Hose war aus dickem Rindsleder und von innen mit Filz
ausgeschlagen. Trotzdem zitterte er. Er klapperte mit den Zähnen und wusste
nicht, ob er es aus Angst tat oder vor Kälte.
Als er die erste Lichtung
erreichte, hielt er sich links. Sein Vater hatte ihm den Weg, den die Kaufleute
beschrieben hatten, genau eingeschärft, und einen Moment lang überkam ihn ein
unbändiger Stolz, dass ihm diese verantwortungsvolle Aufgabe übertragen worden
war.
Reinulf hatte ihn jedoch auch
ermahnt: Was immer er sah und was auch immer er hörte, er solle weitergehen und
den, manchmal nur schwer erkennbaren, Pfad um keinen Preis verlassen. Und noch
etwas hatte er ihm immer und immer wieder gesagt: Er sollte versuchen, seinen
Geist vollkommen zu leeren. Nur dann würde sie nicht bemerken, dass er
überhaupt auf dem Weg aus dem Wald hinaus war. Und er sollte, was auch immer
geschah, auf den Schutz Gottes vertrauen. Wenn er es schaffte keine Zweifel in
sich aufkommen zu lassen und zu glauben, dass er beschützt wurde, dann würde
Gott ihm helfen.
David hatte mit Reinulf oft geübt
Gryla aus seinen Gedanken zu verbannen - besonders gut war er leider nicht
darin. So hatte er dem Vater oft verschwiegen, wenn er es nicht schaffte. Er
dachte intensiv an seine Mutter und versuchte sie innerlich ständig anwesend zu
halten. Er dachte an alle schönen Erlebnisse seines bisherigen, kurzen Lebens,
zählte im Geiste seine Holzfiguren durch, mit denen er oft auf dem Boden der
Kammer gespielt hatte, und holte sich die wenigen sonnigen Tage in Urmitz und
die Nachmittage auf den Wiesen in sein Gedächtnis zurück. So konnte er mit dem
Schicksal um einen gewissen Vorsprung feilschen und einige Stunden herausholen.
Gryla überlisten konnte er damit jedoch nicht.
Ohne sich sicher zu sein, war er
jedoch in die richtige Richtung gelaufen. Eigentlich war der Weg zum
flüsternden Grund nicht weit – vielleicht einen halben Tagesmarsch. Man musste
jedoch die Abkürzungen kennen. Die Urmitzer hatten kein wirkliches Wissen über
das Gebiet des Raunewaldes und so hatte Reinulf nach langen Gesprächen mit den
Kaufleuten seinem Sohn nur grobe Anhaltspunkte geben können. Er stapfte durch
das Unterholz und wähnte sich auf dem richtigen Weg.
Er war vorbei gelaufen am großen
Felsen, der einem Pferdekopf ähnelte, und
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