Die Kornmuhme (German Edition)
seinen verbunden, sein Innerstes berührt und ihn sanft in den Arm genommen.
Noch nicht ganz bei Besinnung, wünschte er sich sehnlichst noch einmal diese
schmerzliche Nähe herbei, denn das wohlige Gefühl, das noch lange nachhallte,
ebbte immer mehr ab. Zum ersten Mal überwältigte ihn eine nie gekannt intensive
Empfindung der Einsamkeit. Tränen füllten seine Augen, denn auch wenn es
eigentlich genau diese Einsamkeit war, die ihn stetig begleitete, kam sie ihm
nun plötzlich nicht mehr vertraut vor, sondern quälend und bedrohlich wie ein
wildes Tier, das lauernd und wie zum Sprung bereit um ihn herum schlich. Denn
nun hatte er das erste Mal in seinem langen Leben, und in nur wenigen
Augenblicken, das Gegenteil fühlen dürfen – Geborgenheit, Schutz und Annahme -
und erst jetzt begriff er, welche kalte, tödliche Leere in ihm seit
Jahrhunderten herrschte.
Er saß auf dem Boden der Kammer
und blickte erschreckt und verwirrt auf seinen Schoß herab, in dem die blaue
Blume nun schwach pulsierend herumkroch und aussah, als wäre sie ein sterbendes
Insekt. Als er seine Hand hob und die feuchte Erde genauer betrachtete, die
ihre Wurzeln darin übrig gelassen hatten, bemerkte er, dass sie eher die
Konsistenz von gehacktem Fleisch zu haben schien, und als er sie zur Faust
schloss, lief geronnenes Blut seinen Arm herab.
Langsam begriff er, dass sie es
gewesen sein musste, die ihn berührt hatte und er verspürte sofort den
drängenden Wunsch, sie wieder an seine Brust zu legen, so dass sie von seinem
Herzen trinken konnte. Irritiert schaute er einen Moment lang auf die
blutverschmierte Erde in seiner Hand, dann auf die Blume, die sich wieder auf
ihn zu und an ihm hoch bewegte, und wie eine Verdurstende ihre langen Wurzeln
nach seinem Herzen ausstreckte, so als wäre er das Einzige, zu dem sie noch
Zuflucht nehmen konnte.
Behutsam nahm er sie in seine
zittrigen Hände. Mit der linken Hand knöpfte er hastig sein Hemd auf, zögerte
noch einen kurzen Moment und drückte sie dann an seine nackte Brust. Bei der
bloßen Berührung mit seiner Haut durchschoss ihn wieder ein grausamer Schmerz
und er schrie und keuchte verzweifelt, als sich die Wurzeln um seinen Körper
schlangen, so als umarmte die Blume ihn. Gleichzeitig durchflutete ihn
ekstatisches Glück und er hörte ihre Bitte in seinem Kopf, von seinem Blut
trinken zu dürfen. Seine Gedanken jagten, und seine innere Stimme warnte ihn,
dass er den Verstand verlieren würde, wenn das Grauen nicht bald ein Ende
hätte. Doch dies wurde von seinem Herzen immer wieder nur mit dem Wunsch
beantwortet, diese Verbundenheit zu besiegeln. Ja, er wollte mit ihr verbunden
sein - für immer, wenn es sein musste, auch wenn er daran sterben würde!
Er drückte sie nun schwer keuchend
noch stärker an sich, und ihre Wurzelfinger begannen in seine Haut einzudringen
- wie brennende Würmer, die sich durch sein Fleisch zu graben versuchten. Dann
wurde es wieder schwarz um ihn.
5
Die frühe Mittagsonne fiel durch
die kleinen Fenster der verschneiten, alten Hütte und ließ die Gesichter von
Ranjas Eltern aschfahl und eingefallen erscheinen. Reinulf, Lioba und ein paar
andere, saßen schon seit Stunden um ihre Feuerstelle herum, wie sie es stets
taten, wenn ein Unglück Urmitz heimgesucht hatte. Oft fanden solche Treffen in
Reinulfs Hütte statt, da er der Stammesführer war. Und wie so oft, saßen alle
nur stumm beieinander und wussten sich nicht zu helfen. Sie versuchten, sich
wenigstens durch ihr Beisammensein Halt zu geben. Alle hatten lange
geschwiegen, nachdem das ganze Dorf zunächst in Aufruhr geraten war. Dann
hatten sie festgelegt, was zu tun war, und nun verließ einer nach dem anderen
die Hütte.
Noch immer lag das tote Pferd auf
dem Dorfplatz, und auch Gerolfs Leiche. Die ersten begaben sich daran, Gräber
auszuheben, doch das kümmerte Ranja nun alles nicht mehr. Sie sah mit wachsender
Sorge, wie es in ihrer Mutter arbeitete und sie sich auf den Moment
vorbereitete, auf den sie alle seit Jahren hingelebt hatten.
Reinulf, Lioba und Aron hatten in
den letzten Monaten einen neuen Plan ausgeheckt, wie Urmitz zu befreien sei.
Nun saßen Ranjas Eltern mit müden Gesichtern am Feuer und begannen ein müßiges
Gespräch darüber, wie sicher es war, David loszuschicken, und welche
Hoffnungen sie hatten.
Eigentlich wiederholten sie immer
wieder nur dieselben Sätze, wie Ranja fand, so als wollten sie sich gegenseitig
zusichern, dass sie die richtige Entscheidung
Weitere Kostenlose Bücher