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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Vielmehr geht es darum, das Abstrakte unmittelbar zu erkennen, ohne Vermittlung der Sprache.«
    Er musterte mich schweigend von Kopf bis Fuß, anscheinend in der Absicht, mich zu sehen.
    »Es leuchtet dir noch nicht ein«, erklärte er.
    Er machte eine ungeduldige, ja sogar ungehaltene Gebärde, als sei er verärgert über meine Begriffsstutzigkeit. Und das beunruhigte mich. Don Juan neigte nicht dazu, psychischen Verdruß zu bekunden.
    »Es hat nichts mit dir oder deiner Handlungsweise zu tun«, sagte er, als ich ihn fragte, ob er mir böse sei oder enttäuscht über mich. »Es war ein Gedanke, der mir in diesem Augenblick in den Sinn kam, als ich dich sah. Da ist ein Charakterzug in deinem leuchtenden Wesen, wofür die alten Zauberer alles hingegeben hätten, um ihn zu besitzen.«
    »Sag mir, was ist es?« wollte ich wissen.
    »Ich werde dich ein andermal daran erinnern«, sagte er. »Einstweilen laß uns fortfahren mit dem Fundament, das uns weiterbringt: dem Abstrakten. Dem Fundament, ohne das es keinen Pfad der Krieger gäbe, und auch keine Krieger auf der Suche nach Wissen.«
    Die Schwierigkeiten, die ich erlebte, so sagte er, wären ihm nicht unbekannt. Er selbst habe Qualen gelitten, um die tiefere Ordnung des Abstrakten zu verstehen. Und ohne die Hilfe des Nagual Elias wäre er schließlich geendet wie sein Wohltäter - immer bereit zur Tat, und nicht zum Verstehen.
    »Wie war der Nagual Elias?« fragte ich, um das Thema zu wechseln.
    »Er war ganz anders als sein Schüler«, sagte Don Juan. »Er war Indianer. Sehr dunkelhäutig und robust. Er hatte grobe Gesichtszüge, einen breiten Mund, eine ausgeprägte Nase, kleine schwarze Augen, dichtes schwarzes Haar ohne graue Strähnen. Er war kleiner als der Nagual Julian und hatte breite Hände und Füße. Er war sehr demütig und sehr weise, aber er hatte keinen Witz. Verglichen mit meinem Wohltäter war er schwerfällig. Immer in sich gekehrt, über Fragen nachgrübelnd. Der Nagual Julian sagte im Scherz, daß sein Lehrer die Weisheit tonnenweise verteile. Hinter seinem Rücken nannte er ihn den Nagual tonnenschwer.
    Ich erkannte niemals den Anlaß für solche Scherze«, fuhr Don Juan fort. »Für mich war der Nagual Elias wie eine Brise frischer Luft. Er pflegte mir alles geduldig zu erklären. Ganz ähnlich, wie ich dir die Dinge erkläre, aber vielleicht kam noch etwas anderes hinzu. Ich möchte es nicht Mitleid nennen, sondern eher Mitgefühl. Krieger sind unfähig, Mitleid zu empfinden, weil sie sich selbst nicht mehr leid tun. Ohne die treibende Kraft des Selbstmitleids ist Mitleid sinnlos.«
    »Willst du behaupten, Don Juan, daß ein Krieger ganz egozentrisch ist?«
    »In gewisser Weise ja. Für einen Krieger beginnt und endet alles bei sich selbst. Aber seine Berührung mit dem Abstrakten zwingt ihn, seine Selbstüberschätzung zu überwinden. Dann wird das Selbst abstrakt und unpersönlich.
    Der Nagual Elias fand, daß wir uns ganz ähnlich wären, was unser Leben und unseren Charakter betraf«, fuhr Don Juan fort. »Aus diesem Grund fühlte er sich verpflichtet, mir zu helfen. Ich empfinde keine solche Ähnlichkeit mit dir, darum nehme ich an, daß ich dich genauso sehe, wie der Nagual Julian mich gesehen hat.« Der Nagual Elias hatte Don Juan, wie er sagte, gleich am ersten Tag unter seine Fittiche genommen, als er im Haus seines Wohltäters eintraf, um seine Lehrzeit zu beginnen; und er hatte ihm von Anfang an erklärt, worum es bei seiner Ausbildung ging, ganz gleich, ob Don Juan es verstand oder nicht. Sein Verlangen, Don Juan zu helfen, war so stark, daß er ihn praktisch gefangenhielt. Auf diese Weise beschützte er ihn vor den rauhen Übergriffen des Nagual Julian.
    »Am Anfang hielt ich mich immer im Hause des Nagual Elias auf«, fuhr Don Juan fort. »Und es gefiel mir. Im Haus meines Wohltäters war ich immer vorsichtig und auf der Hut; ich mußte fürchten, was er als Nächstes mit mir anstellen würde. Aber im Hause des Nagual Elias fühlte ich mich sicher und behaglich.
    Mein Wohltäter trieb mich erbarmungslos vorwärts. Und ich kam nicht dahinter, warum er mich so hart antrieb. Ich glaubte, der Mann sei total verrückt.«
    Der Nagual Elias, sagte Don Juan, war ein Indianer aus dem Staat Oaxaca und war unterwiesen worden von einem anderen Nagual, namens Rosendo, der aus der gleichen Gegend stammte. Don Juan schilderte mir den Nagual Elias als einen sehr konservativen Mann, der die Abgeschiedenheit liebte. Und doch war er berühmt als

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