Die Kreatur
beharrlich.
»Er ist tot, und ich bin tot. Ich war von Anfang an tot.«
In ihrem Handy hatte Lulana die zahlreichen Telefonnummern ihrer großen Familie und dazu die ihres noch größeren Freundeskreises gespeichert. Obwohl Mr Aubrey – Aubrey Picou, ihr Arbeitgeber – seinen Weg zur Erlösung schneller gefunden hatte, als ihm klar war (wenngleich auch langsamer, als Lulana es sich gewünscht hätte), war er trotzdem nach wie vor ein Mann mit einer anrüchigen Vergangenheit, die ihn eines Tages einholen könnte; daher hatte sie in ihrem Telefonverzeichnis Michael Maddisons Nummer im Büro, zu Hause und auch seine Handynummer für den Fall gespeichert, dass Mr Aubrey jemals einen Polizisten brauchte, der ihm eine faire Anhörung gewährleistete. Jetzt tippte sie Michaels Namen ein, und als seine Handynummer angezeigt wurde, stellte sie die Verbindung her.
43
In dem fensterlosen viktorianischen Salon hinter den beiden Tresortüren umkreiste Erika den riesigen Glasbehälter und musterte ihn bis in alle Einzelheiten. Erst hatte er einem gewaltigen Schmuckkasten geähnelt, was er auch jetzt noch tat; aber inzwischen erschien er ihr auch wie ein Sarg, wenngleich ein überdimensionaler und außerordentlich unkonventioneller.
Sie hatte keinen Grund zu der Annahme, dass er eine Leiche enthielt. Das Etwas, das in die bernsteinfarbene Flüssigkeit – oder das Gas – eingehüllt war, wies keine erkennbaren Gliedmaßen oder sonstigen eindeutigen Merkmale auf. Es war
nichts weiter als eine dunkle Masse ohne Einzelheiten; es hätte alles sein können.
Falls dieser Behälter tatsächlich eine Leiche enthielt, war es ein riesiges Exemplar: gut zwei Meter zwanzig groß und knapp einen Meter breit.
Sie untersuchte den verzierten vergoldeten Rahmen, unter dem die Glasscheiben miteinander verbunden waren, und hielt Ausschau nach Nahtstellen, die auf verborgene Scharniere hinweisen könnten. Sie fand aber nichts dergleichen. Falls es sich bei der oberen Glasplatte um einen Deckel handelte, funktionierte er nach einem Prinzip, das sie nicht durchschaute.
Als sie mit einem Knöchel gegen das Glas pochte, wies das Geräusch auf eine Dicke von mindestens zweieinhalb Zentimetern hin.
Ihr fiel auf, das die bernsteinfarbene Masse – um was auch immer es sich dabei handeln mochte – sich direkt an der Stelle, wo sie mit dem Knöchel an das Glas geklopft hatte, kräuselte wie Wasser, wenn ein Stein hineinfällt. Die Kreise breiteten sich saphirblau aus und formten schließlich einen Ring, der immer weiter wurde und verschwand; während er sich zusehends auflöste, stellte sich die bernsteinfarbene Tönung wieder ein.
Sie klopfte noch einmal daran, und die Wirkung war dieselbe. Als sie dreimal schnell hintereinander an das Glas pochte, erschienen drei konzentrische blaue Kreise, die sich ausdehnten und verschwanden.
Obwohl ihre Knöchel nur einen sehr kurzen Kontakt hergestellt hatten, war ihr das Glas kalt erschienen. Als sie ihre Hand flach dagegenpresste, stellte sie fest, dass es eisig war, wenn auch ein paar Grad zu warm, um ihre Haut daran festfrieren zu lassen.
Als sie sich auf den Perserteppich kniete und unter den Behälter lugte, konnte sie zwischen den kunstvoll verschnörkelten
Füßen elektrische Leitungen und Rohre in verschiedenen Farben und von unterschiedlichem Durchmesser sehen, die aus der Bodenplatte herauskamen und im Fußboden verschwanden. Das schien darauf hinzuweisen, dass sich darunter ein Betriebsraum befinden musste, obwohl die Villa angeblich nicht unterkellert war.
Victor gehörte eines der größten Grundstücke in diesem Viertel, und er hatte die zwei prächtigen alten Häuser, die darauf standen, so elegant miteinander verbunden, dass er damit den Beifall der Denkmalschützer eingeheimst hatte. Sämtliche Umbauten im Innern waren von Angehörigen der Neuen Rasse durchgeführt worden, aber nicht alle Veränderungen, die er vornahm, waren der städtischen Baubehörde unterbreitet – oder von ihr genehmigt – worden.
Ihr brillanter Ehemann hatte mehr erreicht als ganze Universitäten voll Naturwissenschaftlern. Seine Leistungen waren umso bewundernswerter, wenn man bedachte, dass er gezwungen gewesen war, seine Arbeit in aller Heimlichkeit zu tun – und seit dem bedauerlichen Tod Mao Tse-tungs auch noch ohne irgendwelche staatlichen Zuschüsse.
Sie erhob sich und ging noch einmal um den Behälter herum, wobei sie zu bestimmen versuchte, ob er ein Kopfende und ein Fußende hatte, wie es bei einem
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