Die Kreuzfahrerin
der Wallfahrer vor den Mauern Konstantinopels aus. Schon rückte der Rand des Lager, den sie hinter sich gelassen hatten, wieder einige Schritte in ihre Richtung. Auch wenn sie gerne weiter die Flucht ergriffen hätte, half Ursula jetzt, die Stangen vom Karren zu ziehen. Der Platz war gut, und sich immer weiterdrängen zu lassen, würde sie nur in die Dunkelheit der herannahenden Nacht bringen. Also gab sie sich mit dem Punkt, den sie erreicht hatten, zufrieden. Ihr Blick löste sich von den Massen der Wallfahrer und glitt die Mauer hinauf. Ganz oben konnte sie Köpfe mit Helmen sehen, aber auch andere, die nicht zu den Soldaten gehörten, sich aber wohl das Schauspiel vor den Mauern nicht entgehen lassen wollten. Für einen Augenblick war Ursula, als müsse sie denen da oben winken.
„Kannst du die Stange halten?“, unterbrach Hilde ihre Gedanken.
Schnell griff sie zu und beteiligte sich weiter daran, das Zelt aufzubauen und ihre Habe darin zu sichern. Dann ging Hilde Holz suchen, und Ursula richtete zusammen mit Raimund eine Feuerstelle ein.
Die Nacht wurde sehr unruhig. Nach dem Essen vereinbarten Ursula, Hilde und Raimund erneut die Reihenfolge, in der sie wachen wollten. Doch Hilde und Ursula brauchten lange, um den ersehnten Schlaf zu finden. Immer noch drängten Pilger heran, und neben allen Rufen und Schreien waren immer wieder die Hufe der Soldatenpferde zu hören.
Auch in den folgenden Tagen trat wenig Ruhe ein. Ständig machten sich neue Gerüchte unter den Pilgern breit. Sicher war nur, sie wurden nicht in die Stadt gelassen. Um das Lager herum hatten Soldaten Posten bezogen. Sie hatten den Befehl, das Umland vor Plünderung zu schützen. Die Vorstadt Konstantinopels konnten sie allerdings nicht davor bewahren. Es wurde erzählt, die Ritter des Einsiedlers und andere bewaffnete Horden hätten dort bereits gewütet.
Einmal am Tag kamen Soldaten mit Fuhrwerken und verteilten Brot und Trinkwasser unter den Pilgern. Das neueste Gerücht, das die Runde machte, war, dass Peter, den alle den Einsiedler nannten, zusammen mit einigen Rittern zum Kaiser Alexios geladen worden war. Im ganzen Lager hatte sich das Gefühl von Alltäglichkeit breitgemacht. Man kümmerte sich um die eigenen Bedürfnisse und wartete ab. Unterbrochen wurde diese allgemeine Langeweile nur durch die Wandermönche und Priester, die an allen Ecken und Enden auftraten und predigten. Aus ihren Mündern war noch am ehesten etwas zu erfahren. Sie riefen zu Mäßigung auf und versuchten einige Regeln zu verbreiten, besonders wegen der Sauberkeit im Lager. Zusätzlich erinnerten sie an das eigentliche Ziel: Jerusalem.
Ursula fühlte sich von dieser großen Stadt magisch angezogen. Obwohl sie mit großen Siedlungen eher schlechte Erfahrungen gemacht hatte, war da in ihr das Gefühl, hier sei alles anders. Schon seit ein paar Tagen lag sie Hilde in den Ohren, man müsse versuchen, in die Stadt zu kommen. Doch Hilde hatte darauf nur gefragt, wie sich Ursula das vorstelle und was mit ihren Sachen in der Zwischenzeit geschehen solle.
„Raimund kann doch darauf aufpassen. Wer weiß, vielleicht finden wir in der Stadt eine Bleibe und können ihn und die Sachen dann holen“, antwortete Ursula, die insgeheim bereits mit Raimund gesprochen hatte, bei einem neuen Versuch, Hilde zu überreden.
„Ach, Ursula, was willst du hinter diesen Mauern?“, jammerte Hilde übertrieben los.
„Wir könnten vielleicht unsere Vorräte auffrischen. Außerdem möchte ich aus der Nähe sehen, was schon vom Hügel aus so phantastisch aussah. Ich habe von einem Pilger gehört, in der Stadt gibt es eine Kirche, die der Heiligen Sophia geweiht ist. Ihre Wände sollen über und über mit Gold bedeckt sein. Willst du das nicht auch mit eigenen Augen sehen?“
„Ja, schon.“ Hilde gab klein bei. „Hast du Raimund überhaupt gefragt, ob er damit einverstanden wäre? Nein, antworte nicht. Ich sehe an deinem Grinsen, du hast längst mit ihm gesprochen. Na gut, dann lass es uns versuchen. Ich glaube aber nicht, dass man uns hineinlassen wird.“
Schon eilte Ursula und holte ihre Tasche. Hilde unterrichtete Raimund. „Wir werden aber vor Einbruch der Dunkelheit wieder da sein“, hörte Ursula ihre Freundin noch sagen. Hilde schaute auf, sah die ungeduldig Wartende und verabschiedete sich von Raimund. Ursula winkte ihm kurz zu, und mit Hilde im Schlepptau zog sie los.
Sie umgingen die teilweise verwüstete Vorstadt und drangen durch weiträumige Festungsanlagen.
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