Die Kreuzfahrerin
auf, und alle hörten gespannt zu, wenn von Wölfen die Rede war, die einen einsamen Wanderer auf einen Baum getrieben hatten, wo er zu erfrieren drohte, bis dann ein Blitzschlag ihn auf wundersame Weise rettete. Von Kaiser Heinrich wurde erzählt, von Fürsten, von deren Prunk, Rüstungen und Taten, die allesamt bunt und phantastisch ausgemalt wurden. Die Frauen erzählten andere Geschichten. Besonders mochte Ursula die Erzählungen von Gott. Ester, Ingrid und Ute, die Magd, kannten eine ganze Reihe von Geschichten über den Herrn Christus und das Jesuskind, die sie aus den Besuchen in der Dorfkirche oder von Wanderpredigern hatten und nacherzählten. Einige wenige ganz andere Geschichten schienen uralt zu sein. Nur Ester konnte sie erzählen, und es kamen fremde Namen und seltsame Spukgestalten darin vor. Da gab es Irrlichter, Waldgeister, Trolle und Hexen. Ute dagegen gefiel sich sehr im Erzählen weniger schöner Dinge aus dem Fundus der Wanderprediger und Mönche. Mit offensichtlicher Lust schilderte sie, sich an den erschreckten Gesichtern der Kinder ergötzend, wie Herodes’ Soldaten die kleinen Kinder von Bethlehem erschlugen, aufspießten, schreienden Müttern entrissen und ihre Schädel gegen Mauern schlugen, oder ihre Rösser über Frauen und Kinder stampfen ließen. Das Jesuskind allerdings erwischten sie nicht. Doch spätestens, wenn die kleine Magda zu weinen begann, war mit den Schauergeschichten Schluss. Mutter Ingrid erzählte dann, wie Maria das kleine Jesulein in einem Stall auf die Welt brachte, dass sie, Josef und das Kind genauso arm gewesen waren wie man selbst, und dass Hirten kamen und Engel erschienen. All das passierte in einem Land, das nicht nur fremd, sondern auch ganz weit weg war. Dort gab es eine Stadt, Jerusalem, deren Tore waren aus Edelsteinen erbaut, und die ganze Stadt strahlte unermesslichen Reichtum aus. Dort stand einst der Tempel des Salomon, und der Herr Christus, der Sohn Gottes, sei selber dort gewesen und unter den Menschen einhergegangen. Dort hätte man ihn auch an das Kreuz genagelt. Jerusalem sei so prächtig, groß und reich, weil es der allerheiligste Ort auf der Welt wäre. Die Kinder hörten mit roten Ohren zu, und die Männer schnitzten nebenher. Meistens machten sie Löffel und Schalen, doch manchmal, besonders, wenn der Bauer gute Laune hatte, schnitten sie aus Holzstücken und Ästen auch Figuren. Meistens waren es Tiere, ab und an aber auch ein kleines Menschlein aus Holz. Eine Frau mit einem langen Rock, einen bärtigen Alten mit einer Kiepe auf dem Rücken, einen Mönch oder einen Jäger. Liesel und Magda hatten schon eine ganze Reihe solcher Figürchen. Nur hin und wieder spielten sie damit, denn es waren ihre größten Schätze. Ursula beneidete die beiden darum. Die Löffel und Schalen hingegen wurden im Frühjahr auf dem Markt verkauft oder eingetauscht.
Esters Lieblingsgeschichte war die Erzählung von den heiligen drei Königen aus dem Morgenland. „Als die drei Könige Bethlehem wieder verlassen hatten, erschien dem Josef ein Engel im Traum. Er sagte zu ihm: Josef, nimm die Frau und das Kind und gehe nach Ägypten. Am nächsten Morgen tat Josef, wie ihm der Engel befohlen hatte. Er nahm Maria und das Kind und flüchtete in ein fremdes Land vor Herodes und seinen Soldaten.“
Ester schwieg, und die Kinder wussten, hier endete ihre Erzählung für heute. Ursula holte tief Luft und seufzte: „Ein Engel, ich würde auch gerne mal einen Engel sehen.“
Ester lächelte mild. „Wer weiß, vielleicht erscheint dir ja irgendwann mal ein Bote des Herrn“, sagte sie ruhig. Ludger grinste, er nahm ein Stück Holz und sagte: „Weißt du was, ich mach’ dir einen Engel.“ Ursula wusste nicht, wie ihr geschah. Sie war völlig überrascht und wagte es kaum zu glauben. Aber bereits zwei Tage später hielt ihr Ludger stolz eine kleine Figur mit großen Flügeln entgegen. Sie dankte Ludger überschwänglich und sprang wie toll mit ihrem Engel durch die Stube, bis sie der Bauer mit einem barschen „Es reicht!“, stoppte. Neben den zwei Kleidern, die man ihr zu tragen gegeben hatte, war das ihr erster Besitz.
Vor den Mauern Arqas,
14. April 1099
Ursula blinzelte in die Sonne. Ihre Beine fühlten sich taub an, und sie brauchte einen Moment, um gewahr zu werden, wo sie sich überhaupt befand. Der Duft der Kräuter brachte sie zurück in ihre Gegenwart.
Sie lachte in sich hinein. „Die Sonne wird mir noch das Hirn verbrennen.“ Mühsam brachte sie sich auf
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