Die Kreuzfahrerin
sagen.“ Hilde zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ein kleines Fieber. Das kommt bei Kindern vor. Es muss nichts bedeuten. Warten wir’s ab.“
Als Ester satt war, erneuerte Ursula ihre Windeln und legte sie in den Korb zurück. Das Mädchen schien vom Trinken erschöpft und schloss ohne zu quäken die Äuglein. Auch Ursula legte sich zurück. War es ihr kleiner heimlicher Ausflug? Sie fühlte sich sehr matt. Aber sie hatte ja auch nicht viel Schlaf gehabt in den letzten Tagen. Sie schlief wie ihre Tochter gleich ein.
Am frühen Morgen riss eine innere Unruhe Ursula die Augen auf. Noch war es draußen nicht ganz hell, aber die ersten Vorboten des Morgens drangen schon als sanfter Schein ins Haus. Hilde und Adele schliefen noch. Leise setzte Ursula sich auf, zog das von der Decke hängende Körbchen zu sich heran und schaute voller Liebe auf ihre Tochter. Vorsichtig hob sie den kleinen Körper an. Ihr stockte der Atem. Ester war stocksteif, und als sie sie an sich drückte, fühlte sie die eisige Kälte des kleinen Körpers. Ursula hielt das Gesicht ihrer Tochter ganz dicht vor ihre Wange, lauschend und spürend. Ihr Schrei zerriss die morgendliche Stille der Gasse. Es war ein Urlaut voller Schmerz und Trauer, und jeder, der ihn im Umkreis hörte, fühlte den Hauch eines unbegreiflichen Geschehens.
Hilde und Adele waren sofort bei Ursula, aber auch sie konnten nichts mehr tun. Ursulas Schreie wandelten sich zu einem tiefen Schluchzen. Das Kind im Arm rollte sie sich auf ihrem Lager zusammen und weinte bittere Tränen. Auch Hilde und Adele weinten, als die ersten Leute aus den umliegenden Hütten hereingestürzt kamen. Hilde stand auf und schob die Menschen wortlos aus dem Haus.
Nur mit Adeles Hilfe gelang es Hilde, Ursula den kleinen Leichnam zu entwinden. Sie packte das Kind aus und untersuchte es kurz. Traurig den Kopf schüttelnd schlug sie es dann in ein frisches Tuch ein und verschnürte es mit Stoffstreifen. Dann kehrte sie an Ursulas Lager zurück. Behutsam streichelte sie der jungen Frau über den Kopf und den Rücken. „Meine arme, arme Ursula.“
Vor den Toren Arqas,
15. April 1099
„Herr Gott, ich bin sündig, aber nicht dieses Kind. Es ist die Frucht der Liebe zwischen Roderich und mir. Herr Gott, gib mir Kraft und mache dieses Kind noch viel stärker. Herr Gott, lass es leben. Bitte, bitte, lass es leben.“ Aus ihrem tiefsten Inneren heraus betete Ursula voller Inbrunst. „Herr Gott, bitte. Hat dein Diener, der Papst, nicht gesagt, alle Sünden sind uns mit dieser Pilgerfahrt vergeben? Herr, nicht um meinetwillen, dem Kind zuliebe, Herr, gib mir Kraft.“
Eine neue Wehe nahm Ursula die Luft. Sie ließ sich gehen, schrie den Schmerz und ihre Verzweiflung heraus. Gellend verhallten ihre Schreie im Dunkel der Nacht, ungehört.
Regensburg,
April/Mai 1096
Ursula war nicht mehr dieselbe. Nach mehreren Tagen, die sie, nicht ansprechbar, ohne Essen und Trinken auf ihrem Lager verbracht hatte, stand sie plötzlich auf. Hilde eilte zu ihr. Ursula sah sie mit dunkel umrandeten Augen an. „Wo habt ihr sie hingebracht? Bring mich zu ihr“, raunte sie mit rauer, trockener Stimme.
Hilde half ihr beim Anziehen und führte sie dann aus der Stadt hinaus zum Friedhof. Hinter dem Gräberfeld außerhalb der Mauer war ein kleiner Hügel aufgeworfen.
„Hier“, sagte Hilde nur. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
Ursula fiel auf die Knie, streichelte die Erde und begann leise zu wimmern. Hilde blieb bei ihr stehen. Mit einem Mal ging ein Ruck durch Ursulas Körper. Sie richtete sich kerzengerade auf, den Blick in unbestimmte Ferne, und ging, ohne Hilde zu beachten, wieder zur Stadt. Hilde folgte ihr. Im Haus angekommen holte Ursula ihre Tasche hinter der Truhe hervor und begann, ihre Habseligkeiten hineinzustopfen.
„Ursula, was machst du?“, fragte Hilde, die ihr Tun beobachtete.
„Ich muss gehen, Hilde. Ich bin schlecht, und Gottes Zorn liegt auf mir. Ich bringe nur Unglück und Unheil. Meine Eltern starben, die alte Ester verließ mich, und ich wurde vom Hof gejagt, jetzt habe ich auch mein Kind auf dem Gewissen. Ich muss gehen, bevor ich auch noch dir und allen anderen Unheil bringe.“
„Was redest du für dummes Zeug?“ Hilde brauste auf. „Auf der Stelle stellst du deine Tasche weg. Du bleibst hier. Ich werde dich nicht gehen lassen. Ja, Ester ist gestorben. Viele Kinder sterben, und man weiß nicht, warum. Wir wissen nicht, was Gott damit bezweckt, aber es ist nicht deine
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