Die Kreuzfahrerin
gaben sie Ursula die Sicht auf etwas frei, was sie bis dahin nicht gesehen hatte. Vor dem Haus des Nachbarn lagen mehrere leblose Körper auf dem Boden. Ursula stockte der Atem. Sie erkannte im Licht der lodernden Flammen Levi und dessen Vater. „Nein, das darf nicht sein!“ Trotz der großen Hitze näherte sich Ursula den Leichen, und auch ihr schossen die Tränen in die Augen. Im Dreck der Gasse lag Adele mit weit aufgerissenen Augen und einem großen, dunklen Fleck auf der Brust. Gleich neben ihr, kaum noch zu erkennen, da ihm eine Axt den Schädel gespalten hatte, Daniel. Ursula wandte sich ab und musste sich übergeben. Weinend fiel sie vor Hilde auf die Erde.
„Warum? Hilde, warum?“, fragte sie weinend, doch Hilde schüttelte nur stumm den Kopf.
Nach einer Weile wischte sie sich jedoch die Tränen ab und stand auf. „Komm, Ursula, schnell, wir müssen helfen“, sagte sie, griff sich aus dem herumliegenden Hausrat einen Eimer und reihte sich bei denen, die Wasser auf die umstehenden Häuser und in die Flammen schütteten, ein. Ursula fand kein Gefäß und lief deshalb zu der Menschenkette, die Wassereimer vom Brunnen zu denen weiter vorne durchreichte. Bis in den Nachmittag hinein kämpften sie gegen das Feuer, und es gelang ihnen wirklich, die Flammen einzudämmen. Die beiden Häuser allerdings waren verloren. Als die Dämmerung hereinbrach, wurde es stiller in der Stadt, und jeder verkroch sich in sein Haus. Ein Mann kam mit einem Karren und zwei Helfern und begann die Toten aufzuladen. Hilde erkannte einen von ihnen. „David!“, rief sie ihn an. „David, bringt euch in Sicherheit, bevor sie auch über euch herfallen.“
„Zu spät“, erwiderte ihr der Mann. „Sie haben uns alle in den Fluss getrieben und dann ihr Kreuzzeichen über uns gemacht. Wir sind getauft. Oh Schande über uns.“
Hilde wusste nicht, was sie sagen sollte. Ein Nachbar kam und brachte eine Plane und zwei lange Stangen. „Es wird regnen“, sagte er, und Hilde und Ursula halfen ihm, über ihren geretteten Habseligkeiten ein Zeltdach zu spannen. Dann begannen die beiden Frauen, die Sachen zu ordnen und besser zu verpacken. Es war bereits dunkel, als sie mit allem fertigwaren. Hilde holte Holz von den Resten ihres Hauses und machte ein Feuer. Ursula suchte einen Kessel und holte Wasser. Die beiden Frauen arbeiteten schweigend Hand in Hand. Erst als sie beide auf den Strohsäcken sitzend mit einem Becher Kräutersud dasaßen und in die Flammen des Feuers starrten, fand Hilde zu ihrer Sprache zurück. „Was ist in die Menschen gefahren? Ursula? Was ist heute geschehen?“
Ursula berichtete ihr von dem Einsiedler und den Reden. Hilde verstand und seufzte.
„Wir müssen hier bei unseren Sachen bleiben, sonst ist morgen davon auch nichts mehr übrig. Versuch etwas zu schlafen, Ursula. Ich halte derweil Wache. Später wecke ich dich, und du passt auf, solange du kannst. Dann weck mich wieder, ja?“
Hildes Stimme klang traurig und hoffnungslos. Ursula nickte und kauerte sich mit einer Decke zwischen die Sachen. Zuerst mochte der Schlaf nicht kommen. Ursula hatte die schrecklichen Bilder und Schreie im Kopf und auch die Stimme des Einsiedlers. Irgendwann schlief sie aber doch ein und wurde mitten in der Nacht von Hilde geweckt. Sie tauschten die Plätze, und Ursula starrte stundenlang in die Glut des Feuers. Als ihr dann immer öfter die Augen zufielen, weckte sie Hilde wieder.
Regensburg,
4. Mai 1096
Ursula wurde von Stimmen geweckt. Es war bereits hell, und einige Leute waren unterwegs. Hilde hatte angefangen, in den Überresten des Hauses nach Dingen zu suchen, die vielleicht noch zu retten wären. Auch im Haus des Nachbarn stöberten Leute umher. Ursula stand auf und schaute zwischen den Sachen nach, ob sie auch etwas zum Essen dabei war. Sie fand den Sack mit Getreide und machte sich daran, einen Brei zu kochen. Hilde kam hin und wieder zurück und brachte Sachen, die nicht Opfer der Flammen geworden waren. Schließlich blieb sie bei Ursula stehen. „Es hat keinen Sinn mehr. Viel ist nicht übriggeblieben. Aber wir haben mehr als das eigene Leben.“ Ihre typische Art, bei allem einen Scherz zu finden, kam wieder durch, auch wenn das, was sie sagte, etwas zynisch klang.
Während die beiden Frauen ihren Brei löffelten, kam der Kerl, mit dem Ursula zusammen gewesen war. Ohne Gruß begann er gleich zu erzählen: „Die Stadtwache hat einen großen Teil der Pilger aus der Stadt gedrängt. Die Juden sind alle im Fluss
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