Die Kreuzzüge
noch, etwas weniger überzeugend, hinzu: »Ich allein war nicht dieser Meinung und bestand darauf, dass es nicht richtig war, so etwas zu äußern.« 11
Das Schicksal griff ein und verhinderte, was sich womöglich zu einem verheerenden sunnitischen Bürgerkrieg ausgeweitet hätte. Noch während Nur ad-Din auf den Bericht seines Finanzprüfers aus Kairo wartete, wurde er im späten Frühjahr 1174 krank. Bei einem Polospiel vor den Toren von Damaskus am 6. Mai erlitt er eine Art Hustenanfall, und als er in die Zitadelle zurückkehrte, ging es ihm schon sehr schlecht. Er litt möglicherweise unter einer Art Angina, und zunächst weigerte er [310] sich hartnäckig, Ärzte zu Rate zu ziehen. Als al-Rahbi, sein Hofarzt, eintraf, kauerte Nur ad-Din in einem kleinen Gebetsraum, tief im Innern der Zitadelle, er war »dem Tod nahe [. . .], seine Stimme war kaum mehr zu vernehmen«. Als man vorschlug, ihn zur Ader zu lassen, weigerte er sich rundweg und sagte: »Einen Mann von 60 Jahren lässt man nicht mehr zur Ader«, und keiner wagte es, dem großen Herrscher zu widersprechen.
Am 15. Mai 1174 starb Nur ad-Din, und er wurde später in einer der theologischen Schulen beigesetzt, die er in Damaskus hatte bauen lassen. Sogar von seinen Feinden, den Franken, wurde Nur ad-Din als »mächtiger Verfolger des christlichen Namens und Glaubens« geachtet: »ein gerechter, tapferer Fürst«. Er war der erste muslimische Herrscher, dem es seit dem Beginn der Kreuzzüge gelungen war, Aleppo und Damaskus zu vereinen. Seine Vision und seine im Lauf der Zeit zunehmende Frömmigkeit hatten in der Welt der Sunniten eine Periode religiöser Erneuerung eingeleitet, sie hatten die Idee des Dschihads gegen die Feinde des Islams als zentrale, verpflichtende Vorstellung wieder belebt. Dennoch waren die Franken bei seinem Tod unbesiegt, und die Heilige Stadt Jerusalem befand sich noch immer in der Hand der Christen. 12
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[311] ERBE ODER USURPATOR
N ur ad-Dins Tod im Mai 1174 scheint Saladin die ideale Gelegenheit geboten zu haben, aus dem alles beherrschenden Schatten der syrischen Zangiden herauszutreten, nicht länger nur Heerführer im Dienst eines anderen Herrn, sondern selbst Herrscher zu werden, sein Recht auf eigenständige Herrschaft durchzusetzen und die Rolle des führenden Kämpfers im heiligen Krieg gegen die Franken zu übernehmen. Zu schnell bietet es sich an, die Geschichte des Islams im Vorderen Orient während des 12. Jahrhunderts als eine Zeit linearen Fortschritts zu interpretieren, in der eine ständig anschwellende Woge der Begeisterung für den Dschihad, angefangen bei Zangi über Nur ad-Din bis schließlich zu Saladin, zunehmend an Durchschlagskraft gewann und die Fackel der Führerschaft mit nahezu zwingender Logik von einem muslimischen »Helden« an den nächsten weitergereicht worden wäre. So sah jedenfalls das von einigen islamischen Zeitgenossen entworfene und engagiert vertretene Bild aus.
Die entscheidende Schwachstelle an diesem zugegeben verlockenden Konstrukt ist die Tatsache, dass Saladin im Jahr 1174 nicht als Nachfolger Nur ad-Dins ausgerufen wurde. Nur ad-Din hinterließ vielmehr einen elfjährigen Sohn, al-Salih, der, wie er hoffte, einst die Macht übernehmen sollte. Außerdem gab es noch einige andere Blutsverwandte, die womöglich ein Interesse an einer Fortsetzung des zangidischen Aufstiegs im Orient anmelden würden. Nach Lage der Dinge bestand also im Jahr 1174 für Saladin keine Möglichkeit des Aufstiegs, die von selbst auf ihn zukam. Er musste sich vielmehr entscheiden: War ihm seine Herrschaft über die Nilregion wichtiger, und wollte er dort ein überwiegend selbständiges ägyptisches Reich schaffen; oder war ihm eher daran gelegen, Nur ad-Dins Vorbild nachzueifern oder sie gar zu übertreffen und oberster Führer der Muslime in der Levante zu werden?
[312] EIN HELD FÜR DEN ISLAM
Saladin schlug mit einzigartiger Kraft und Hingabe den zweiten Weg ein. Die entscheidende Frage lautet nun, ähnlich wie bei Nur ad-Din: Warum tat er das? Ging es ihm um Macht, wollte er ein von ihm allein beherrschtes, panlevantinisches islamisches Reich aufbauen, um seinen persönlichen, selbstsüchtigen Ehrgeiz zu befriedigen? Oder trieb ihn ein höheres Ziel an, strebte er die muslimische Einheit an, um erfolgreich den Dschihad gegen die christlichen Franken führen zu können? Wir müssen versuchen, Saladins Motive, seine Geisteshaltung wenigstens ansatzweise zu verstehen, nicht zuletzt, weil er als
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