Die Kreuzzüge
Später machte die Geschichte die Runde, dass Stephanie, ganz höfische Dame, mitten im Sturm der Belagerung Speisen vom Hochzeitsbankett zum Sultan hinausbringen ließ und dass dieser als Dank dafür versprach, den Teil der Festung, in dem die frisch Vermählten sich aufhielten, nicht zu bombardieren. Wenn an dieser Geschichte irgendetwas Wahres sein sollte – in muslimischen Quellen wird sie nicht erwähnt –, dann war ein Motiv für Saladins galante Geste unter Umständen schlicht der Wunsch, das Leben derart wertvoller Geiseln zu schonen.
Die Nachricht von der Belagerung von Kerak traf am lateinischen Hof in Jerusalem zu einem Zeitpunkt ein, als die Franken ohnehin schon tief in Zwistigkeiten verstrickt waren. Wider Erwarten war Balduins Fieber zurückgegangen, und der geschwächte Körper des Lepra-Königs erholte sich ein wenig. Nach den Ereignissen bei Ain Dschalut stritt er sich mit Guido von Lusignan um die Herrschaftsrechte, und der junge Monarch wandte sich, möglicherweise negativ beeinflusst durch Raimund III. und [358] die Brüder Ibelin, von Guido ab und widerrief dessen Regentschaft. Noch während Kerak belagert wurde, berief Balduin einen Rat ein, um die Wahl eines neuen Erben zu diskutieren, und die Wahl fiel schließlich auf den kleinen Sohn Sibyllas aus ihrer ersten Ehe – den Neffen und Namensvetter des Königs, Balduin (V.). Am 20. November 1183 wurde der Fünfjährige zum Thronfolger ernannt und als Mitregent in der Grabeskirche gekrönt und gesalbt. Sogar Wilhelm von Tyrus musste zugeben, dass »die Meinungen kluger Männer bezüglich dieser großen Veränderung sehr weit auseinandergingen [. . .] denn weil ja beide Könige behindert waren, der eine durch seine Krankheit und der andere aufgrund seines kindlichen Alters, war die ganze Sache völlig sinnlos«. Seine eigene Auffassung machte der Erzbischof dann doch noch kaum verhüllt deutlich, indem er schloss, diese Abmachung habe immerhin jede noch bestehende Hoffnung erstickt, die dieser »absolut unfähige« Guido möglicherweise noch auf die Königswürde gehegt haben sollte. 9
Nachdem diese Regelung getroffen war, brach Balduin IV. nach Transjordanien auf. Er hoffte, Kerak befreien zu können. Wegen seiner Gebrechlichkeit musste er wahrscheinlich in einer Sänfte getragen werden, und Raimund von Tripolis wurde zum Befehlshaber des fränkischen Heeres ernannt. Obwohl die Lateiner erst so spät anrückten, war es Saladin bisher noch nicht gelungen, den riesigen Festungsgraben von Kerak zu überqueren, und da das Heer der Christen nun immer näher rückte, brach der Sultan seine Belagerung am 4. Dezember 1183 ab. Es hatte sich bei diesem Angriff von vornherein um eine halbherzige Unternehmung gehandelt, und ganz sicher wollte Saladin vermeiden, den Franken in einer offenen Schlacht gegenüberzutreten. Der Lepra-König konnte also in der Rolle des siegreichen Retters Einzug in die Wüstenfestung halten.
In diesem Winter kam es zum offenen Bruch zwischen Balduin IV. und Guido von Lusignan, und während der gesamten ersten Hälfte des Jahres 1184 war das Königreich Jerusalem durch Zwietracht geschwächt. Saladin konzentrierte sich währenddessen auf seinen diplomatie-gestützten Kampf um Mosul und unternahm bis zum späten Sommer keinen Angriff gegen die Franken. Um den 22. August herum begann er erneut, Kerak zu belagern, aber als der Lepra-König seine letzten Kräfte zusammennahm und ein Entsatzheer aufstellte, zog sich der Sultan wiederum zurück und schlug in einer Entfernung von einigen Kilometern in Richtung [359] Norden ein gut geschütztes Lager auf. Als die Lateiner keine Anstalten machten, ihn anzugreifen, zog er weiter. Nach einer kurzen Überfallkampagne im Tal des Jordans und einem raschen Überfall auf Nablus zog er sich dann nach Damaskus zurück.
Saladin verfolgte bei diesen beiden Feldzügen gegen das Königreich Jerusalem durchgehend, sowohl 1183 als auch 1184, eine Strategie vorsichtiger Aggression: Er übte probeweise Druck auf die Franken aus, ging nur geringe Risiken ein und vermied jegliche Kampfhandlung, wenn der Feind sich weigerte, zu Saladins Bedingungen und an Plätzen seiner Wahl zu kämpfen. Diese Gefechte sind oft als genau kalkulierte, langsam größer werdende Stufen auf dem Weg zur vollständigen Invasion interpretiert worden, doch man kann in ihnen genauso gut Versuchsballons sehen, Testattacken in einem Kampf, der bislang für den Sultan nur untergeordnete Bedeutung hatte. Auffällig ist ja, dass
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