Die Kreuzzüge
sie identifizieren. Große Trauer und Verzweiflung überwältigte sie, denn der Feind hatte nur Männer von Ansehen und Rang verschont oder solche, die körperlich stark und leistungsfähig genug waren, um bei den Aufbauarbeiten zu helfen. Es wurden verschiedene Gründe für das Massaker genannt. Es hieß, sie seien aus Rache für die eigenen Gefallenen getötet worden, oder der König von England habe beschlossen, nach Askalon zu marschieren, um es einzunehmen, und es für unklug befunden, eine so große Anzahl von Gefangenen zurückzulassen. Gott allein weiß es.
Baha ad-Din zufolge war Richard Löwenherz »gegenüber den muslimischen Gefangenen wortbrüchig geworden«, weil sie sich ja »unter der Bedingung« ergeben hatten, »dass sie in jedem Fall mit dem Leben davonkommen«, schlimmstenfalls in die Sklaverei verkauft würden, falls Saladin [488] das Lösegeld für sie nicht zahlen sollte. Der Sultan reagierte auf die Hinrichtungen mit einer Mischung aus Entsetzen und Zorn. Zweifellos ließ er in den Wochen danach die Kreuzfahrer, die das Pech hatten, in seine Hände zu fallen, ohne Ausnahme exekutieren. Gleichzeitig stimmte er aber am 5. September der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zum englischen König zu, und einige Angehörige seines Gefolges sollten enge, fast herzliche Beziehungen zu Richard entwickeln. Insgesamt haben sie wie auch Saladin selbst die ganze entsetzliche Episode wohl so verstanden, wie sie höchstwahrscheinlich gemeint war: als einen Akt militärischer Zweckmäßigkeit, eine besonders grausame Absichtserklärung. Das Gemetzel löste in der gesamten islamischen Welt des Vorderen Orients offenbar eine Schockwelle aus. Saladin musste einsehen, dass seine Garnisonen künftig ihre Stellungen wohl besser frühzeitig räumten, bevor sie sich auf eine Belagerung und womöglich eine anschließende Gefangennahme einließen. Aber selbst unter den muslimischen Zeitgenossen hatten die Ereignisse vom 20. August keine allumfassende, absolute Diffamierung des englischen Königs zur Folge. Er war nach wie vor nicht nur »der verwünschte Mann«, sondern auch » Melec Ric«, »König Ric«, der über die Maßen versierte Krieger und Feldherr. Mit der Zeit wurde das Massaker mit anderen Greueltaten der Kreuzfahrer wie der Plünderung Jerusalems im Jahr 1099 in eine Reihe gestellt, als ein Verbrechen, das am Ende doch keinen verheerenden Feuersturm des Hasses entfachte, sondern sich gut als Argument in der Dschihad-Werbung eignete. 19
Natürlich hatte Richards Umgang mit seinen Gefangenen auch Auswirkungen auf sein Ansehen in der abendländischen Christenheit, und zwar in mehrfacher Hinsicht mit wesentlich nachhaltigerem Effekt. Ob dem Gemetzel nun Berechnung zugrunde lag oder nicht, jedenfalls konnte man in seinem Handeln einen eklatanten Verstoß gegen die Übergabebedingungen von Akkon sehen. Wenn Richard sein Versprechen gebrochen haben sollte, dann war der Vorwurf, er habe die herkömmlichen Vorstellungen von Ritterlichkeit und Ehre missachtet, vollkommen berechtigt. Dass Richard derartige Kritik befürchtete, kann man an der maßvollen, vorsichtigen Art ablesen, wie er und seine Gefolgschaft die Ereignisse darstellten.
Es ging dabei vor allem um Rechtfertigung. In seinem Brief an den Abt von Clairvaux vom 1. Oktober 1191 verwies er auf die Ausweichmanöver [489] Saladins und erklärte, dass aus diesem Grund »die Frist ablief, und als die Abmachung, die er mit uns getroffen hatte, völlig nichtig geworden war, haben wir ganz zu Recht die Sarazenen, die sich in unserer Gewalt befanden – rund 2600 Mann –, getötet«. Einige lateinische Chronisten versuchten ebenfalls, dem Sultan die Schuld zuzuschieben – sie behaupteten, Saladin habe zwei Tage vor der Massenhinrichtung schon selbst begonnen, die Christen, die sich in seinem Gewahrsam befanden, umzubringen, und erklärten außerdem, Richard habe erst gehandelt, nachdem er eine Beratung angesetzt habe, und alles sei mit der Zustimmung Hugos von Burgund geschehen (der jetzt die französischen Kreuzfahrer anführte). Einige wenige kritische Stimmen wurden laut – der deutsche Chronist »Ansbert« beispielsweise verurteilte dieses barbarische Gemetzel –, aber insgesamt blieb der englische König von öffentlicher Kritik verschont.
Auch das Urteil der modernen Geschichtswissenschaft unterlag im Lauf der Zeit deutlichen Schwankungen. In den 1930er-Jahren, als Richard Löwenherz noch allgemein als impulsiver, unbeherrschter Monarch galt,
Weitere Kostenlose Bücher