Die Kreuzzüge
verurteilte René Grousset das Massaker als barbarisch und dumm und kam zu dem Schluss, Richard sei ausschließlich von rasendem Zorn getrieben gewesen. In jüngerer Zeit hat John Gillingham mit seinen eingehenden, einflussreichen Forschungen viel zur Ehrenrettung des Königs beigetragen. In Gillinghams Rekonstruktion der Ereignisse vor Akkon tritt Richard als planvoll handelnder, klarsichtiger Befehlshaber auf, der wusste, dass ihm die Mittel zur Versorgung und Bewachung von mehreren tausend muslimischen Gefangenen einfach nicht zur Verfügung standen, und deshalb aus militärischem Zweckdenken heraus eine durchaus vernünftige Entscheidung traf. 20
Letztlich können wir weder Richards Geistesverfassung noch seine Motive im August 1191 zweifelsfrei rekonstruieren. Eine logische Erklärung für sein Handeln gibt es, was allerdings die Möglichkeit nicht ausschließt, dass ihn auch Zorn und Ungeduld antrieben.
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LÖWENHERZ
K önig [490] Richard I. von England hatte nun freie Hand, den dritten Kreuzzug zum Sieg zu führen: Die Mauern Akkons waren wieder aufgebaut, die muslimische Garnison der Stadt erbarmungslos beseitigt; Richard hatte sich außerdem die Unterstützung zahlreicher führender Kreuzfahrer gesichert, darunter die seines Neffen Heinrich II., Graf von Champagne; sogar Hugo von Burgund und Konrad von Montferrat hatten zumindest mündlich Richards Recht auf den Oberbefehl anerkannt, obwohl Konrad sich nach wie vor nicht von Tyros wegbewegte. 1 Nun ging es darum, das nächste Ziel des Feldzugs zu bestimmen. In Akkon zu bleiben wäre fast oder völlig sinnlos gewesen. Wenn man die Stadt allerdings auf dem Landweg verließ, war der Kreuzzug der grenzenlosen Wut muslimischer Truppen ausgesetzt. Im Mittelalter war ein Heer am verwundbarsten, wenn es sich in feindlichem Territorium bewegte. Die einzige Alternative, die sich Richard für den Zug über Land bot, war der Seeweg, doch verwarf er offenbar schnell die Idee einer Strategie, die sich ausschließlich auf den Seekrieg stützte. Er hatte jetzt zwar eine sehr große Flotte zur Verfügung, aber der Transport der gesamten Militärmaschinerie des Kreuzzugs wäre eine fast unlösbare Aufgabe gewesen; und was noch schwerer wog: Wenn es ihm nicht gelang, einen geeigneten Hafen weiter im Süden einzunehmen, dann musste die gesamte Offensive zusammenbrechen. Er entschied sich dann für eine Kombination beider Strategien: für einen Vormarsch zu Land, der sich entlang der Mittelmeerküste südwärts bewegen sollte und dabei von der lateinischen Flotte auf Sichtweite begleitet und unterstützt wurde. Damit war ein Marsch nach Jerusalem über Land ausgeschlossen, aber die übliche Route in die Heilige Stadt verlief ohnehin entlang der Küstenstraße nach Jaffa und dann in östlicher Richtung in die Berge von Judäa. Einen ähnlichen Weg hatten fast ein Jahrhundert zuvor auch schon die ersten Kreuzfahrer eingeschlagen.
[491] Allerdings sind Richards strategische Ziele im Sommer 1190 nicht klar zu erkennen. Der dritte Kreuzzug war zur Wiedereroberung Jerusalems begonnen worden, doch es ist alles andere als ausgemacht, dass Jerusalem in jenem August das oberste Ziel des Königs war. Möglicherweise hatte er tatsächlich die Absicht, die Hafenstadt Jaffa als Ausgangsbasis für einen direkten Vormarsch auf die Heilige Stadt zu nutzen. Aber denkbar war auch eine eher indirekte Strategie, die die Küstenstadt Askalon im Süden mit einbezog, womit man die Verbindungskanäle Saladins mit Ägypten durchtrennen konnte. Der Sultan war auf den Reichtum und die Ressourcen aus Ägypten angewiesen, und mit dieser letzteren Möglichkeit hätte man die gesamte muslimische Militärmaschinerie empfindlich treffen und zusätzlich noch die Tür zu einer späteren Wiedereroberung Jerusalems öffnen können oder womöglich sogar zu einem Ausgriff auf das Nildelta.
Natürlich sind Richards Pläne auch deshalb nicht eindeutig festzumachen, weil der König selbst sich entschieden bedeckt hielt. Für ihn war es ganz schlüssig, seine Strategie vor Saladin geheim zu halten, weil dies den Sultan zwang, seine Ressourcen aufzuteilen: Er konnte sich nicht auf eine Stadt konzentrieren, sondern musste sich vielmehr auf die Verteidigung von zwei Städten vorbereiten. Muslimische Quellen verweisen darauf, dass diese Kriegslist einigermaßen erfolgreich war. Ende August kamen dem Sultan Gerüchte zu Ohren, die Kreuzfahrer hätten die Absicht, nach Askalon zu ziehen, doch er wusste, dass sie sich,
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