Die Kreuzzüge
wieder Nahrung zu sich nehmen konnten. Joinville hörte die Schreie der Männer, die sich diesem grausigen Eingriff unterziehen mussten, durch das ganze Lager gellen und verglich sie mit den »Geburtswehen einer Frau«. Auch der Hunger forderte viele Opfer unter den Männern und ihren Pferden. Viele Franken ernährten sich vom Fleisch der toten Pferde, Esel und Maultiere, später wurden sogar Katzen und Hunde gegessen. 18
Der Preis der Unschlüssigkeit
Anfang März 1250 waren die Umstände im Hauptlager der Christen am Südufer des Tanis unhaltbar geworden. Ein Augenzeuge berichtet, die Männer hätten »offen ausgesprochen, dass alles verloren war«. Die Hauptverantwortung für diesen katastrophalen Stand der Dinge lag bei Ludwig. Mitte Februar hatte er versäumt, die Risiken und den möglichen Nutzen realistisch einzuschätzen, wenn man das südliche Kreuzfahrerlager beibehielt; er hatte seine Hoffnungen einfach weiter ausschließlich auf die zunehmende Schwäche der Ajjubiden gesetzt. Außerdem unterschätzte er völlig, wie verwundbar seine Nachschub- und Versorgungsverbindung auf dem Nil war und wie viele Truppen er brauchte, um das ägyptische Heer bei Mansourah zu besiegen.
Man hätte einige Folgen dieser Fehlentscheidungen noch abmildern können, wenn der König sich jetzt zu entschlossenem Handeln hätte durchringen können, nachdem er eingestanden hatte, dass seine Position völlig unhaltbar geworden war. Die zwei Optionen, die ihm noch [645] blieben, waren sofortiger Rückzug oder Verhandeln, doch Ludwig konnte sich den gesamten März hindurch für keine von beiden entscheiden. Er scheint vielmehr, während seine Männer um ihn herum immer schwächer wurden und starben, von seiner Entscheidungsunfähigkeit geradezu gelähmt gewesen zu sein; er konnte sich nicht eingestehen, dass seine hochfliegenden strategischen Pläne für Ägypten vereitelt waren. Erst Anfang April wurde Ludwig endlich aktiv, doch nun war es zu spät. Er versuchte, mit den Ajjubiden einen Waffenstillstand auszuhandeln, und bot offenbar an, Damiette im Austausch gegen Jerusalem aufzugeben (auch das wieder eine Parallele zum fünften Kreuzzug). Im Februar 1250 wäre ein derartiges Abkommen vielleicht noch möglich gewesen, vielleicht sogar noch im März, doch im April konnte es an der eindeutigen Vormachtstellung der Muslime keinerlei Zweifel mehr geben. Turanshah wusste, dass er eindeutig im Vorteil war, und mit dem Sieg unmittelbar vor Augen lehnte er Ludwigs Vorschlag ab. Den Christen blieb nun nichts anderes mehr übrig, als einen Rückzug in Richtung Norden zu versuchen, 60 Kilometer über offenes Gelände bis nach Damiette. 19
Am 4. April wurden die erschöpften Männer des lateinischen Heeres aufgefordert, sich auf den Weg zu machen. Die Hunderte, womöglich gar Tausende Kranke und Verwundete sollten auf Schiffe gebracht und nilabwärts transportiert werden, in der Hoffnung, das eine oder andere Schiff werde den muslimischen Kordon passieren können. Die übrigen körperlich nicht eingeschränkten Kreuzfahrer sollten über Land zur Küste zurückmarschieren.
In diesem Stadium war der König selbst schwer an Ruhr erkrankt. Viele führenden Franken drängten ihn zu fliehen, entweder zu Schiff oder zu Pferd, um einer Gefangennahme zu entgehen. In einer Mischung aus Tapferkeit und Torheit jedoch verhielt Ludwig sich ostentativ solidarisch und weigerte sich, seine Männer im Stich zu lassen. Er hatte sie nach Ägypten geführt; nun hoffte er, sie auch wieder in Sicherheit hinauszugeleiten. Es wurde ein wenig durchdachter Plan ausgeheckt, sich im Schutz der Dunkelheit davonzumachen und die Zelte im südlichen Lager stehen zu lassen, damit die Muslime nicht merkten, dass eine Flucht stattfand. Ludwig befahl außerdem seinem Baumeister Joscelin von Cornaut, er solle, wenn alle den Tanis überquert hatten, die Seile durchtrennen, mit denen die Bootsbrücke über den Tanis befestigt war.
Leider erwies sich nur allzu schnell, dass der Plan untauglich war. Den [646] meisten Kreuzfahrern gelang es, im Schutz der Dunkelheit das nördliche Ufer zu erreichen, doch eine Gruppe ajjubidischer Kundschafter bemerkte, was geschah, und schlug Alarm. Bei der Annäherung feindlicher Soldaten scheint Joscelin die Nerven verloren zu haben; jedenfalls ergriff er die Flucht – und die Brücke wurde nicht abgebrochen, vielmehr von Scharen muslimischer Soldaten benutzt, die den Franken nachsetzten. In der Dunkelheit breitete sich Panik aus, und es begann
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