Die Kreuzzüge
exotische Gefahren. Gottfried von Bouillon etwa wurde auf der Jagd von einem wilden Bären angegriffen und schwer verwundet. Er hatte Glück, dass er dabei nicht umkam. Gefahren und Bedrängnisse dieser Art scheinen dazu geführt zu haben, dass die nächste Etappe sorgfältiger geplant wurde. Als die Kreuzfahrer in der fruchtbaren südöstlichen Ecke Kleinasiens ankamen, begannen sie mit den ansässigen armenischen Christen, die bis dahin unter türkischem Regiment gelebt hatten, Allianzen zu schmieden. Von Herakleia aus wurden Tankred und Balduin von Boulogne Richtung Süden nach Kilikien entsandt, während das Hauptheer die nördliche Route über Koxon und Marasch nahm. Beide Gruppen traten in Verbindung mit den dortigen armenischen Christen, doch Tankred und Balduin taten noch mehr: Sie errichteten ein Depot, von dem aus das gesamte Heer in den folgenden Monaten mit Nachschub beliefert werden konnte, und sicherten für die Verstärkungstruppen, mit denen die Franken in Antiochia zusammenzutreffen hofften, eine kürzere Route nach Syrien hinein.
Nach seiner kilikischen Expedition beschloss Balduin, sich vom Kreuzzug zu trennen und sein Glück im östlichen Grenzland zwischen Syrien und Mesopotamien zu suchen. Er hatte eine Möglichkeit ausfindig [74] gemacht, eine eigene unabhängige levantinische Herrschaft zu begründen, und brach daher mit einer kleinen Truppe von nur 100 Rittern auf. Durch einen brutalen Eroberungsfeldzug in ausschließlich eigener Sache kamen seine Fähigkeiten als militärischer Befehlshaber wie als gewiefter politischer Taktiker zum Vorschein. Er stilisierte sich zum »Befreier«, der die armenischen Christen vom Joch der türkischen Tyrannei erlöste, und erlangte auf diese Weise schnell die Herrschaft über ein ausgedehntes Gebiet, das sich in Richtung Osten zum Euphrat hin erstreckte. Sein wachsender Ruhm trug ihm dann die Einladung zu einem Bündnis mit Thoros ein, dem schon älteren armenischen Herrscher über Edessa, einer Stadt im Fruchtbaren Halbmond jenseits des Euphrat. Das Bündnis ging so weit, dass Thoros Balduin in einem kuriosen öffentlichen Ritual als seinen Sohn adoptierte: Beide Männer entblößten ihren Oberkörper, und Thoros umarmte Balduin und »drückte ihn an seine nackte Brust«, wobei ein langes Hemd über beide gezogen wurde, das ihre neue Verwandtschaft besiegeln sollte. Diese Zeremonie tat allerdings dem rücksichtslosen Ehrgeiz Balduins keinen Abbruch, was Thoros zum Verhängnis werden sollte. Es vergingen nur wenige Monate, bis sein armenischer »Vater« ermordet wurde, wahrscheinlich sogar mit Balduins stillschweigendem Einverständnis. Der Franke ergriff nun die Macht über die Stadt und ihre Umgebung und gründete damit den ersten Kreuzfahrerstaat im Orient: die Grafschaft Edessa. 19
Unterdessen vereinigten sich Anfang Oktober 1097 die Truppen des ersten Kreuzzugs an der Nordgrenze Syriens; sie hatten die Durchquerung Kleinasiens überstanden, wenn auch mit herben Verlusten. Die Ereignisse des folgenden Jahrhunderts sollten zeigen, dass das bereits eine außerordentliche Leistung war, denn spätere Kreuzfahrer scheiterten in dieser Region. Nun jedoch lag eine immense Aufgabe vor ihnen, die selbst diese Prüfungen in den Schatten stellen sollte: die Belagerung Antiochias.
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[75] SYRISCHES MARTYRIUM
I m Frühherbst des Jahres 1097 langten die Teilnehmer des ersten Kreuzzugs im Norden Syriens an und kamen zu einer der großen Städte des Orients, der wehrhaften Metropole Antiochia. Endlich hatten sie die Grenzen zum Heiligen Land erreicht, und nun lockte im Süden bereits, nur noch drei Wochen Fußmarsch entfernt, Jerusalem. Die direkte Route zur Heiligen Stadt, die alte Pilgerstraße, führte allerdings durch Antiochia hindurch, bevor sie zur Mittelmeerküste abbog, in den Libanon und nach Palästina hinein, vorbei an einigen potentiell feindlichen, von Muslimen besetzten Städten und Festungen.
Allgemein verbreitet ist unter Historikern die These, den Franken sei nichts anderes übriggeblieben, als Antiochia einzunehmen, bevor sie ihre Reise in den Süden fortsetzten, weil ihnen die Stadt auf dem Weitermarsch als unüberwindliches Hindernis im Weg stand. Das stimmt nicht ganz. Spätere Ereignisse lassen darauf schließen, dass die Kreuzfahrer theoretisch auch die Möglichkeit gehabt hätten, die Stadt zu umgehen. Wäre es ihnen nur darum gegangen, so schnell wie möglich Jerusalem zu erreichen, hätten sie wahrscheinlich einen befristeten
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