Die Kreuzzüge
der eigenen Vorstellung hinzufügten. Entscheidend aber ist vor allem, dass alle drei den ersten Kreuzzug einer von Grund auf veränderten Interpretation unterzogen.
[126] So ist etwa Roberts Palette von Anspielungen auf die Heilige Schrift weitaus reichhaltiger als die der Gesta Francorum , sie zeugt von der Belesenheit des Verfassers. Er benutzte Zitate aus oder Vergleiche mit Episoden aus dem Alten und Neuen Testament, um den Kreuzzug in einen wohlgeordneten christlichen Kontext einzureihen. Außerdem strich er die ganz eigene Natur des Wunderbaren bei diesem Kreuzzug heraus und betonte, dessen Erfolg sei nicht auf menschliche Anstrengung zurückzuführen, sondern auf das Wirken Gottes. Und schließlich schrieb er die gesamte Geschichte des Kreuzzugs um. Die Gesta bezogen sich nur indirekt auf die Kreuzzugspredigt Urbans II.; sie waren so angelegt, dass die Belagerung und Eroberung von Antiochia als Höhepunkt des Unternehmens hervortrat und die Ereignisse in Jerusalem lediglich noch ein unbedeutenderes Nachspiel darstellten. Im Gegensatz dazu ließ Robert seine Geschichte mit einer ausgedehnten Darstellung der päpstlichen Predigt in Clermont beginnen (bei der er, wie er behauptete, selbst zugegen gewesen war) und legte ungleich viel mehr Gewicht auf die Einnahme der Heiligen Stadt. Damit stellte er den Kreuzzug als Unternehmung dar, die durch die Instanz des Papstes eingeleitet, geführt und legitimiert war, und unterstrich, ihr eigentliches Ziel sei die Wiedereroberung Jerusalems gewesen.
Natürlich veränderte Roberts Erzählung die Ereignisse des ersten Kreuzzugs nicht in irgendeiner materiellen Hinsicht, ebenso wenig wie die Berichte Guiberts und Balderichs. Doch spielt ihr Werk für das Verständnis der Kreuzzüge insgesamt eine ganz entscheidende Rolle, weil es im Vergleich mit anderen Texten wie den Gesta Francorum von den damaligen Zeitgenossen in viel größerem Umfang rezipiert wurde. Von daher prägten diese benediktinischen Aufarbeitungen die Weise, wie die Menschen im 12. und 13. Jahrhundert sich an den Kreuzzug erinnerten und wie sie ihn einschätzten. Vor allem die Darstellung durch Robert von Reims wurde allgemein bewundert – man kann sie geradezu als eine Art Bestseller unter der Gelehrten-Elite jener Zeit bezeichnen. Außerdem diente sie als Quelle für die berühmteste chanson de geste (epische Darstellung) über den Kreuzzug, die Chanson d’ Antioche , die in 10 000 Versen in altfranzösischer Sprache den Kreuzfahrern als christlichen Helden Unsterblichkeit verlieh. Abgefasst war die Chanson d’ Antioche in der populären epischen Form, die in Westeuropa bald zum beliebtesten Mittel aufstieg, »historische« Ereignisse darzustellen, und sie war zum [127] öffentlichen Vortrag in der Volkssprache vor einem Laienpublikum gedacht. Als solche trug sie beträchtlich dazu bei, die Erinnerung an den ersten Kreuzzug in der lateinischen Christenheit zu prägen.
Von den ersten »Augenzeugen«-Berichten bis zur Historia des Robert von Reims und der Chanson d’ Antioche wirkte sich der Prozess der Erinnerung an diesen Kreuzzug mit weitreichenden Folgen auf die imaginierte Realität der Ereignisse aus: Gottfried von Bouillon stieg zum einzigen Anführer der Expedition auf; die Erinnerung an den »wunderbaren« Einfluss der Heiligen Lanze wurde eingefügt; und es festigte sich die Vorstellung, dass die als Märtyrer gestorbenen Kreuzfahrer ihren Lohn im Himmel empfingen. Die historisch wohl folgenreichste Umformulierung und Manipulation bezog sich auf die Ereignisse in Jerusalem am 15. Juli 1099 und danach. Die Plünderung der Heiligen Stadt durch die Franken konnte von christlichen Zeitgenossen unschwer als der entscheidende Augenblick des von Gott gebilligten Triumphs dargestellt werden, oder von Muslimen als ein Akt absoluter Bestialität, der das ganze Ausmaß der barbarischen Natur der Franken offenbarte. Es ist in der Tat verblüffend, dass die christlichen Verfasser nicht versuchen, die Zahl der »Ungläubigen«, die bei der Einnahme Jerusalems getötet wurden, zu begrenzen – wenn sie Veränderungen vornahmen, dann übertrieben sie eher die Zahl der Toten. Und sie schwelgten in der Darstellung des Gemetzels in der al-Aqsa-Moschee. In den Gesta Francorum heißt es, dass die Kreuzfahrer bei dieser Schlachterei bis zu den Knöcheln im Blut wateten. Ein anderer »Augenzeuge«, Raimund von Aguilers, weitete dieses Bild noch aus. Mit Bezug auf eine Stelle in der Offenbarung des Johannes
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