Die Krieger 1 - Das Erbe der Magier
sie irgendwann nicht mehr ein, warum ihr Bruder sie ständig zur Vorsicht mahnte. In ihren Augen hatten sie einen ganzen Tag verschwendet, was sie Nolan immer wieder mit spitzen Bemerkungen unter die Nase rieb.
Wäre sie allein gewesen, wäre sie vermutlich geradewegs aus dem Haus marschiert und hätte den Fremden zur Rede gestellt. Dabei hielt Nolan das für den größten Fehler, den sie machen konnten. Aber wie sollte er sie davon überzeugen, ohne zu verraten, was er wusste? Wie konnte er seine Schwester bitten, ihm zu vertrauen, wenn er selbst nicht wagte, ihr sein dunkles Geheimnis zu gestehen?
Bevor Eryne endgültig die Beherrschung verlor, mussten sie eine Entscheidung treffen. In der Villa konnten sie auf keinen Fall bleiben. Es war bereits ein großes Risiko gewesen, einen ganzen Tag verstreichen zu lassen. Sie mussten noch vor Einbruch der Nacht aufbrechen.
Er verließ seinen Beobachtungsposten am Fenster und trat in Erynes Zimmer. Sie war unter die Decke geschlüpft, zerknüllte ein Taschentuch in den Händen und lugte schmollend unter ihrer blonden Haarmähne hervor. Nolan wusste, dass ihr Kummer echt war, aber er musste unwillkürlich daran denken, dass sie vor zehn Jahren genauso dagelegen hatte, nachdem sie ein Riesentheater um irgendein buntes Schmuckstück gemacht hatte, das sie unbedingt haben wollte.
»Wie geht’s?«, fragte er überflüssigerweise.
»Das siehst du doch selbst«, gab sie zurück und zeigte auf ihr geschwollenes Gesicht. »Nolan, ich halte die Warterei nicht mehr aus! Das macht mich wahnsinnig!«
»Ja, wir sollten gehen«, stimmte er zu. »Es bringt nichts, weiter hier herumzusitzen. Der Kerl wird sicher noch die ganze Nacht vor unserer Tür kampieren. Oder ein anderer löst ihn ab, was an der Sache ja nichts ändert.«
»Aber wie? Willst du einfach so an ihm vorbeispazieren? Hast du plötzlich keine Angst mehr vor einem Angriff?«
»Ich dachte daran, einen anderen Ausgang zu nehmen«, antwortete er und hielt ihrem Blick tapfer stand.
Innerhalb weniger Augenblicke schlug die Verblüffung auf Erynes Gesicht in blanke Empörung um. Sie sprang aus dem Bett und begann wie ein Rohrspatz zu schimpfen.
»Der
Keller.
Du spinnst wohl! Wir sollen durch den
Keller
gehen? Durch einen angeblichen Geheimgang, der vielleicht schon seit Jahren eingestürzt ist? Oder der uns ausgerechnet heute auf den Kopf kracht? Mich bringen keine zehn Pferde in diesen Tunnel, damit das klar ist! Und dann wartest du auch noch, bis es fast dunkel ist, bevor du mit diesem blödsinnigen Plan ankommst!«
»Eryne, etwas anderes bleibt uns nicht übrig … Eine bequemere Lösung wäre mir ja auch lieber, aber …«
»Bequemer?
Ich kann dir sagen, was bequemer wäre! Wir marschieren mit unseren Waffen zur Tür hinaus, und dann werden wir schon sehen, ob dieser Kerl tatsächlich vorhat, sich uns in den Weg zu stellen!
Das
wäre bequem!«
Nolan wartete, bis sich das Unwetter verzogen hatte, während seine Schwester im Zimmer auf- und ablief und sich die Schläfen rieb.
»Wir haben beide noch nie eine Waffe in der Hand gehabt«, erinnerte er sie vorsichtig. »Und dieser Mann ist vielleicht nicht allein. Möglicherweise wartet am Ende der Straße eine ganze Bande, die er nur herbeizuwinken braucht. Dann haben wir nicht die geringste Chance.«
»Und wenn es nur ein hundsgewöhnlicher Bettler ist, verschwenden wir unsere Zeit!«
»Du hast Recht, Eryne«, gab Nolan zu. »Aber Vater hat uns immer eingeschärft, vorsichtig zu sein. Ich will nicht, dass er bei seiner Rückkehr nur noch unsere Leichen findet.«
Das Argument schien seine Wirkung nicht zu verfehlen, denn seine Schwester beruhigte sich allmählich. Nach einigen tiefen Seufzern gab sie schließlich ihren Widerstand auf.
»Es wird aber auch höchste Zeit, dass wir hier rauskommen«, sagte sie schnippisch. »Wir haben viel zu lange herumgetrödelt! Wenn ich schon heute Morgen mit Roban gesprochen hätte, wüssten wir vielleicht längst, was mit unseren Eltern passiert ist.«
Sie wischte sich eine letzte Träne vom Gesicht und hockte sich neben ihre prallgefüllte Reisetasche, um die Sachen, die sie widerwillig umgepackt hatte, noch einmal durchzusehen. Nolan ging davon aus, dass sein Vorschlag damit angenommen war. Er senkte den Kopf und stellte sich wieder an das Fenster im Nachbarzimmer. Der in seinen Mantel gehüllte Unbekannte stand immer noch da. Eigentlich wirkte er ganz harmlos, und doch wurde Nolan das Gefühl nicht los, dass er gefährlich
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