Die Krieger 1 - Das Erbe der Magier
war. Auf einmal kam ihm der Gedanke, er selbst könnte diesen unheimlichen Schatten zum Haus seiner Eltern geführt haben. Hatte der Kerl ihn etwa schon seit seinem Aufbruch aus Ith verfolgt? Das war durchaus denkbar. Bei dieser Vorstellung lief es ihm eiskalt über den Rücken. Sein Besuch in Lorelia hatte ihre Lage vielleicht noch viel schlimmer gemacht! War er womöglich an allem schuld?
Plötzlich hatte er es sehr eilig, das Haus zu verlassen. Er stürmte ins Zimmer seiner Schwester, hob die Tasche hoch, die Eryne soeben zugemacht hatte, und trug sie in die Küche. Dann rannte er durch das Erdgeschoss und suchte einige Sachen zusammen, die ihnen bei ihrem Plan nützlich sein würden: Lampen und Zunder, wasserdichte Wachsmäntel, Schuhe zum Wechseln – und eine Waffe.
Als Anhänger der Friedensgöttin widerstrebte es ihm, einen Dolch zu tragen, aber er musste Eryne beschützen. Der Gedanke, sie könnte verletzt werden, nur weil er nicht in der Lage war, sie zu verteidigen, war einfach unerträglich. Wild entschlossen schob er die schwere Tür beiseite, hinter der Reyan seine Schwertsammlung aufbewahrte.
Rund dreißig Klingen hingen an den Wänden der Kammer. Die meisten waren Paradewaffen, unhandliche Schwerter, wie sie die lorelischen Edelleute an Festtagen trugen. Dazu kamen sieben oder acht Rapiere, die Lieblingswaffen seines Vaters, die so schnell und scharf waren wie sein Mundwerk. Nolan entschied sich lieber für einen einfachen Stockdegen, der weniger kriegerisch wirkte und dafür umso praktischer war.
Als er die schmale Klinge aus dem Stock zog, bekam er eine Gänsehaut. Mit einer sachten Berührung vergewisserte er sich, dass die Schneide scharf geschliffen war. Er ließ den Degen durch die Luft sausen und ging unbeholfen in Kampfstellung. Lana war immer dagegen gewesen, dass Reyan den Kindern Fechtunterricht gab, aber nun kamen Nolan erste Zweifel, ob er ihr dafür dankbar sein sollte. Gewiss, in der eurydischen Religion war der Gebrauch von Waffen geächtet. Trotzdem bedauerte er, sich nicht mit geübten Degenstößen gegen mögliche Angreifer zur Wehr setzen zu können.
Unwillkürlich führte er einige Kampfbewegungen aus und versuchte sich an Ausfallschritten und Finten. Da entdeckte er plötzlich das ängstliche Gesicht seiner Schwester, die ihn von der Türschwelle aus beobachtete.
Verlegen steckte Nolan den Degen wieder in den Stock zurück und wischte sich wütend über die Augen. Zum ersten Mal, seit seine Eltern verschwunden waren, weinte er.
Doch er hatte niemanden, dem er sein Herz ausschütten konnte.
***
Es dauerte immer eine ganze Weile, bis sich Amanon wieder an das Leben in Kaul gewöhnte. Obwohl er als Kind auf den Straßen gespielt hatte, auf denen er nun nach Hause zurückkehrte, kam es ihm jedes Mal so vor, als entdeckte er das Matriarchat und seine Bräuche völlig neu. Der Unterschied zu den Unteren Königreichen hätte kaum größer sein können. Zum Beispiel wurde es in Kaul in der Dämmerung so kühl, dass sich die Familien in ihren Häusern verkrochen, während es in Mythr tagsüber so heiß war, dass Läden und Werkstätten erst gegen Abend für einen oder zwei Dekanten öffneten.
Fragte man ihn nach seiner Herkunft, wusste Amanon nie so recht, ob er sich als Ramgrith oder als Kaulaner bezeichnen sollte. Durch Corenn, seine Mutter, und Grigän, seinen Vater, war er mit beiden Ländern vertraut. Seine Eltern hatten ihn auf zahlreiche Reisen mitgenommen, vor allem nach Griteh und Arkaden, und so hatte er schon als Kind fremde Sitten verstehen und achten gelernt. Im Laufe der Jahre hatte er sich dann immer mehr für ferne Gegenden interessiert und eine Leidenschaft für ausgefallene Gegenstände und Bräuche entwickelt.
Als seine Schulzeit im Großen Haus zu Ende ging, hatte er lange darüber nachgedacht, welchen Beruf er ergreifen sollte. Schließlich fand er eine Beschäftigung, die seinen Neigungen am meisten entsprach: Er wurde Übersetzer. Seitdem lebte er abwechselnd im Königreich der Ramgrith und im Matriarchat, wenn er nicht gerade einen Diplomaten in eine der Hauptstädte der bekannten Welt begleitete. Manchmal verschlug es ihn aber auch in die entlegensten Winkel: Soeben kehrte er von einer zwei Monde langen Wüstenreise mit einem tarulischen Nomadenstamm zurück.
Mit seinen dreiundzwanzig Jahren hatte Amanon deshalb schon mehr Erfahrungen und Kenntnisse angesammelt als die meisten seiner Altersgenossen. Man sagte ihm nach, jede Lebenslage mit Sinn und
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