Die Krieger 1 - Das Erbe der Magier
drei Tage gedauert, und zweimal hatten sie auf morschen Booten, die jeden Moment unterzugehen drohten, einen Fluss überqueren müssen. Gestern Abend waren Cael und Amanon dann endlich am Tor der Herzöge angekommen. Einem lorelischen Gesetz zufolge mussten späte Besucher einen besonderen Wegezoll zahlen, womit verhindert werden sollte, dass zu viele Fremde nach Ablauf des sechsten Dekants die Stadt betraten. Die Abgabe war so hoch, dass nach Einbruch der Dunkelheit nur Reiche und Edelleute die Tore der Stadt nach Gutdünken passieren konnten. Auf diese Weise sorgte der König für Ruhe und Ordnung auf den Straßen.
Daher hatten sich Cael und Amanon in einer der Herbergen vor der Stadtmauer ein Zimmer genommen. Erst im Morgengrauen waren sie durch das Tor getreten, nachdem sie ihre Pferde in einem Mietstall untergestellt hatten. Nun durchquerten sie die nördlichen Viertel und fragten zweimal nach dem Weg, bis sie endlich auf dem legendären Platz der Büßer standen, dem Ziel ihrer Reise, auf das sich all ihre Hoffnungen richteten.
Cael wünschte sich von ganzem Herzen, dort wenigstens einen vertrauten Menschen zu treffen, Leti, Yan, Corenn oder Grigän, auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering war. Schließlich waren er und Amanon meilenweit vom Matriarchat entfernt und wurden beide von den Valiponden verfolgt.
Trotz allem klammerte sich Cael an diesen Wunsch. Das Gefühl der Einsamkeit, das ihn nicht mehr losließ, seit er zum Gestüt seiner Mutter geflohen war, wurde allmählich unerträglich, und Amanons wortkarge Art machte es nicht besser. Seit er Corenns Testament gelesen hatte, war sein Cousin nicht mehr der Alte. Die meiste Zeit starrte er gedankenverloren vor sich hin, wenn er nicht gerade zum hundertsten Mal in dem Tagebuch blätterte. Außerdem war er noch angespannter und verschlossener als zuvor, selbst Cael gegenüber.
Der Junge hatte keine Ahnung, was seine Großtante in ihrem Tagebuch notiert hatte. Wenn er Amanon darauf ansprach, bekam er nur ausweichende Antworten. Als er begriff, dass sein Cousin nicht darüber sprechen wollte, hörte er auf, Fragen zu stellen. Manchmal hatte er sogar den Eindruck, Amanon misstraue ihm. Ganz sicher war er sich nicht, doch hin und wieder musterte ihn sein Cousin stirnrunzelnd, was ihm ein mulmiges Gefühl machte. Was auch immer Corenn in ihrem Tagebuch offenbarte, es trieb einen Keil zwischen ihre Freundschaft. Da er sonst niemanden hatte, dem er sich anvertrauen konnte, litt Cael darunter umso mehr.
Er musterte jeden Passanten genau, weil er hoffte, schon vor dem vereinbarten Zeitpunkt ein bekanntes Gesicht zu sehen. Besser gesagt, vor dem
angenommenen
Zeitpunkt, denn die Worte ihrer Eltern waren recht vage gewesen: »Sollten wir eines Tages voneinander getrennt werden, treffen wir uns auf dem Platz der Büßer in Lorelia wieder.« Nach langem Nachdenken war Amanon zu dem Schluss gekommen, dass sie sich während des Schauprozesses treffen würden. Diese öffentliche Gerichtsverhandlung war die Attraktion des Tages und deshalb ein guter Zeitpunkt für eine Verabredung.
Der Prozess selbst war für Fremde nicht sonderlich interessant. Amanon war schon drei- oder viermal in Lorelia gewesen, und so konnte er seinem Cousin den Ablauf erklären. Achtmal pro Dekade hielt der königliche Richter vor dem Gerichtsgebäude an der Stirnseite des Platzes eine öffentliche Verhandlung ab. Dafür wählte er jedes Mal einen beispielhaften Fall aus, um die Erinnerung der Lorelier an die Gesetze der Stadt aufzufrischen. Manche Stadtväter hielten diese Urteile für wirksamer als öffentliche Hinrichtungen, für andere hingegen waren die Prozesse sinnloser und langweiliger als ein Gauklerspektakel. Natürlich ersetzten sie keinesfalls die Auftritte des Henkers und andere grausame Zerstreuungen, die auf dem Platz von Uliterre stattfanden. Die Tradition der Schauprozesse wurde Dekade um Dekade und Jahr um Jahr fortgeführt, ganz gleich, wer auf dem Thron saß.
Mittlerweile ahnte Cael, warum seine Eltern diesen Ort als Treffpunkt ausgewählt hatten: Auf dem Platz der Büßer herrschte ein kunterbuntes, lärmendes Treiben. Bei all den Marktschreiern, Hausfrauen, herumstreunenden Kindern, fahrenden Handwerkern, Knechten und Mägden, die Einkäufe für ihre Herrschaften erledigten, und Schaulustigen, die sich vor dem Gericht drängten, konnte man leicht im Gewühl untertauchen und in einer der zahlreichen Seitengassen verschwinden, falls man angegriffen wurde. Vielleicht würden
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