Die Krieger 2 - Der Verrat der Königin
ihrer Angst oder Wut zu stören. An Deck wurde der Vorfall dafür umso heftiger diskutiert .
Zejabel hatte offen ausgesprochen, was sie insgeheim geahnt hatten. So erfuhr Niss, dass ihre Zimmergenossin im Jal'dara gezeugt worden war, und bekam in allen Einzelheiten zu hören, welche Rolle sie bei ihrer Rettung gespielt hatte und was ihr auf dem Platz der Büßer widerfahren war. Auch die erstaunliche Intuition, mit der sie auf Ji den Weg zur Pforte gefunden hatte, kam wieder zur Sprache. All das zusammengenommen hatte die Erben längst stutzig gemacht, doch trotzdem begriff Niss nicht, was an Eryne übermenschlich sein sollte. Sie fand es nur traurig, dass es ihr so schlecht ging und sie ihr nicht helfen konnte – vor allem jetzt, wo sie wusste, dass sie Eryne ihr Leben verdankte.
Da die Hauptperson fehlte, kamen die Erben in ihren Überlegungen nicht so recht weiter. Die Umstände ihrer Empfängnis mochten ihr zwar einige übersinnliche Fähigkeiten verliehen haben, und diese Fähigkeiten konnten im Kampf gegen Sombre durchaus nützlich sein, aber solange sie nicht mehr darüber wussten, drehten sie sich nur im Kreis.
So beschlossen sie zu warten, bis Eryne wieder auftauchte. Niss vertrieb sich die Zeit, indem sie die Landschaft betrachtete. An manchen Stellen lagen die Ufer weit voneinander entfernt, an anderen war der Kanal so schmal, dass ihn nur ein Schiff passieren konnte. Die goronischen Baumeister hatten jedes kleine Gewässer und jeden Fluss genutzt, um einen Wasserweg zwischen Leem und dem Alt zu schaffen, und so war eine abwechslungsreiche Route entstanden. Am Ufer reihten sich Weiler in allen erdenklichen Größen: Mal war es nur eine Ansammlung von Bauernhöfen, mal ein kleines Städtchen, das sich hinter hohen Festungsmauern verbarg. Menschen bekam Niss allerdings kaum zu Gesicht. Die wenigen Goroner, die sie am Ufer entdeckte, waren meistens Soldaten auf Streife. Das Kaiserreich verfügte über eine der größten Armeen der Welt, und das war auch auf dem Land spürbar. Selbst die Dorfbewohner, die samt und sonders den landesüblichen Zweispitz trugen, sahen so kriegerisch aus, dass Niss aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Seit sie endgültig wieder aufgewacht war, sog Niss alle Eindrücke begierig in sich auf. Schließlich hatte sie drei Jahre ihres Lebens verloren, drei Jahre, in denen sie nichts erlebt und nichts gelernt hatte … Manchmal ertappte sie sich sogar bei dem Gedanken, sie sei erst zehn Jahre alt. Wie dumm von ihr! Glücklicherweise hatte der Tiefe Traum nicht verhindert, dass sie körperlich und geistig herangereift war.
Nur eins war noch genau wie früher: ihre Faszination für Tiere. Trotz der schrecklichen Erfahrung mit dem Eichhörnchen erfreute sie sich an jedem noch so kleinen Lebewesen. Sie war versucht, ihre Erjak-Kräfte auszuprobieren, ganz kurz nur … Natürlich würde sie nicht wieder in einen fremden Körper schlüpfen, bestimmt nicht, aber eine kleine Unterhaltung wäre doch sehr spannend, wenn sich nur ein Versuchsobjekt hätte finden lassen.
Vom Deck der
Rubikant
aus war das nämlich gar nicht so einfach. Die Spezies, die sie am häufigsten entdeckte, war eine dem Rebhuhn ähnelnde Wasservogelart, die sogenannte Floßwachtel, die sich schwimmende Nester baute. Darauf ließen sich die Vögel bis zum Ozean treiben, wo ihre flügge gewordenen Jungen das Nest verließen. Während dieser mehrere Dekaden dauernden Reise versuchten die Vogelpärchen verzweifelt, ihre kleinen Flöße von steinigen Ufern, Raubfischen und Jagdnetzen fernzuhalten – ein Kampf, der von vornherein verloren schien. Niss freute sich jedes Mal, wenn sie im Kielwasser der Gabiere ein noch unversehrtes Nest entdeckte, aber leider blieb ihr der Geist dieser Tiere verschlossen.
Die einzigen Säugetiere, die ihr hin und wieder unter die Augen kamen, waren fette Ratten und Margoline, die im Kanal plantschten, doch sie tauchten so schnell wieder ab, dass sich der Versuch nicht lohnte. Außerdem wusste Niss von früher, dass diese Tiere nur eine begrenzte Anzahl von Regungen kannten: Hunger, Angst und der Fortpflanzungstrieb waren ihre einzigen Empfindungen. Nein, für ihr erstes Experiment nach so langer Zeit wollte sie lieber die Gedanken eines Pferdes, eines Hundes oder einer Katze lesen. Einem Schneelöwen würde sie hier ja wohl kaum begegnen. Die Reise wäre ihr viel kurzweiliger vorgekommen, wenn sie mit Cael hätte plaudern können, aber er schien ihr beharrlich aus dem Weg zu gehen.
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