Die Krieger 2 - Der Verrat der Königin
Vielleicht war das Tagebuch seiner Großtante tatsächlich so spannend, dass er sich gar nicht davon trennen konnte. Jedenfalls ließ Niss ihn in Ruhe, seit er es höflich abgelehnt hatte, mit ihr an Deck zu gehen. Sie fand das sehr schade, denn sie hätte gern etwas Zeit mit einem Gleichaltrigen verbracht und wollte außerdem herausfinden, was es mit dem seltsamen Erlebnis auf sich hatte, an das sie sich erinnerte. Als sie wie im Traum gesehen hatte, wie er … Doch dazu würde sie ihn wohl später ausfragen müssen. Wenn überhaupt.
Der seltsame Wallatte hatte sich irgendwo verkrochen, und Nolan und Zejabel steckten seit dem Mittag die Köpfe zusammen und unterhielten sich so vertraulich, dass niemand sie zu stören wagte. Also verbrachte Niss den Tag mit ihrem Großvater und Amanon, die sich am Steuer abwechselten und Anekdoten von ihren Reisen erzählten. Für eine Weile gelang es ihr, den Ernst ihrer Lage zu vergessen, die schmerzliche Sehnsucht nach den Eltern, die Hoffnungslosigkeit der Gefährten und die arme Eryne, die nicht wahrhaben wollte, welche Bürde ihr das Schicksal aufgeladen hatte …
Die Sonne stand schon tief am Horizont, als die Gabiere endlich das Ende des Kanals erreichte. Nun mussten sie nur noch eine Schleuse passieren und würden dann zwei weitere Tage auf dem Alt bis Goran weitersegeln. Die meisten Schiffe legten in dem kleinen Städtchen an der Schleuse an, und auch Amanon'steuerte die
Rubikant
an einen etwas abseits gelegenen Steg.
»Heute Abend essen wir in einem Wirtshaus«, verkündete er, während er die Leinen festzurrte. »Und zwar im besten, das wir finden! Sagst du Eryne Bescheid?«
Niss nickte eifrig und hüpfte schon in Richtung Kombüse, da hörte sie, wie Amanon zu Bowbaq gewandt mit einem Seufzer hinzufügte: »Ich wüsste nicht, womit wir sie sonst aus ihrer Kajüte hervorlocken sollten.«
Amanon's Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Nachdem sie so vielen Gefahren getrotzt hatten, waren sie froh, das enge Schiff einmal verlassen zu können.
Während sie sich ausgehbereit machten, kam eine geradezu ausgelassene Stimmung auf. Jeder noch so kurze Moment der Unbeschwertheit war ihnen willkommen, denn was die nächsten Tage bringen würden, stand in den Sternen.
Auch Eryne hatte sich einverstanden erklärt, ließ die anderen aber lange warten. Nach geraumer Weile kam sie endlich zum Vorschein. Amanon, der im Schein der Laternen am Kai auf- und abmarschierte, sah sie an Deck auftauchen und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Eryne hatte sich selbst übertroffen.
Vielleicht hatte sie nur ihre rot geweinten Augen kaschieren wollen – das jedenfalls war ihr gelungen. Das Fräulein von Kercyan hatte sich herausgeputzt wie für einen Hofball. Amanon hatte noch nie eine Frau so schön gefunden. Obwohl es ihm unangenehm war, konnte er nicht umhin, sie mit den Augen zu verschlingen und jedes noch so kleine Detail zu bewundern: das kunstvoll hochgesteckte Haar, das prachtvolle grüne Kleid mit dem spitzenbesetzten Ausschnitt, die Seidenhandschuhe, die edlen Strümpfe, die unter dem langen Rock hervorlugten … Am meisten aber verwirrte ihn das strahlende Lächeln, das ihm die zukünftige Herzogin schenkte. Vergessen waren seine Neugier, die bohrenden Fragen, die er so bald wie möglich mit allen besprechen wollte. Er brachte es einfach nicht über sich, ihr damit den Abend zu verderben. Jedenfalls nicht gleich.
Den anderen ging es wohl ähnlich, denn niemand erwähnte, worüber sie sich den ganzen Tag die Köpfe heißgeredet hatten. Außerdem war es schon spät, und ihnen knurrten die Mägen.
Nachdem Amanon das Zeichen zum Aufbruch gegeben hatte, brachte er noch rasch ein Stück Stoff an der Luke an, damit sie sehen konnten, ob jemand in ihrer Abwesenheit unter Deck herumgeschnüffelt hatte. Als er die Gabiere als Letzter verließ, hoffte er inständig, dass ihnen wenigstens heute Abend Ruhe vergönnt wäre.
Bald spazierte die kleine Gruppe so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr durch die Straßen der Stadt. Zejabel und Nolan liefen in ein Gespräch vertieft nebeneinander her, Bowbaq hatte Niss an die Hand genommen und lächelte zufrieden in sich hinein, und Keb mit seinen in die Stirn hängenden Haaren und dem Pelzmantel bildete die Nachhut. Amanon lief zwischen Eryne und Cael, bis dieser plötzlich langsamer wurde, um auf Keb zu warten, und seinem Cousin dabei verschwörerisch zuzwinkerte.
»Ich war noch nie in einem anderen Land«, sagte Eryne nach einer Weile.
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