Die Krieger 4 - Das Geheimnis der Pforte
gestürzt hatte, bevor er wie eine Marionette, der man die Fäden durchschnitt, in sich zusammengesackt war.
»Ich sehe unten nach«, sagte Keb.
Eryne nickte und schämte sich plötzlich für ihr Misstrauen. Anstatt Cael unverzüglich für schuldig zu erklären, sollte sie sich lieber Sorgen um ihn machen. Vielleicht hatte der unbekannte Angreifer auch ihn verletzt. Schließlich hatten die Valiponden schon einmal versucht, ihn zu entführen, damals im Großen Haus von Kaul. Womöglich waren sie wieder über ihn hergefallen, und er hatte sich diesmal nicht wehren können.
In ihrer Verwirrung verstand Eryne Bowbaqs flehenden Blick nicht gleich. Er hielt die Hand seiner Enkelin, als wäre sie der kostbarste Schatz der Welt. Erst nach einer guten Dezille begriff sie, was er sich von ihr erhoffte - oder vielmehr von Eryne der Heilenden. Ohne zu zögern, beugte sie sich über das besinnungslose Mädchen und begann ihr sanft über das Gesicht, den geschundenen Hals und die Brust zu streichen. Zum ersten Mal spürte sie die Kraft, die ihren Berührungen innewohnte, eine heilende Energie, die durch ihre Hände strömte. Diese Empfindung war noch recht schwach, nicht mehr als ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen, aber sie war eindeutig da. Plötzlich wurde Niss von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt und griff sich instinktiv an den schmerzenden Hals.
Sie schlug gerade die Augen auf, als Keb von unten zurückkehrte. Der Krieger begrüßte Niss mit einem schiefen Grinsen, aber sein Blick war düster.
»Im Schankraum ist Cael auch nicht. Die Wirtin hat gesehen, wie er vor gut zwei Dekanten die Herberge verließ. Er kam wohl die Treppe heruntergepoltert und rannte wie ein Blitz zur Tür hinaus.«
»Und seitdem ist er nicht wieder aufgetaucht …«, murmelte Amanon mit gerunzelter Stirn.
In seinen Augen lag tiefe Traurigkeit. Eryne kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er sich schuldig fühlte. Er hatte sich zu sehr auf seine Manuskripte konzentriert und seinen Cousin in den letzten Tagen nicht weiter beachtet. So vertieft war er in seine Arbeit gewesen, dass er die Kampfgeräusche aus dem Nebenzimmer nicht gehört hatte. Dabei wäre es seinen Freunden nicht im Traum eingefallen, ihm Vorwürfe zu machen. In diesem Fall gab es keinen Schuldigen. Selbst Cael war eher zu bemitleiden als zu verurteilen.
»Wir … müssen … ihn … suchen«, stieß Niss mühsam hervor.
Vor Schmerz und Anstrengung rollten ihr Tränen über die Wangen.
Bowbaq legte einen Finger an die Lippen, um ihr zu bedeuten, sie solle ihre Stimme schonen. Dann stand er auf, klopfte Eryne zum Zeichen, dass er ihr seine Enkelin anvertraute, auf die Schulter, und verließ das Zimmer. Gleich darauf kehrte er mit seinem Umhang über den Schultern und der Kaute in der Hand zurück. Mit seiner grimmigen, entschlossenen Miene wirkte er geradezu furchteinflößend.
»Cael ist Yans und Letis Sohn«, brummte er. »Und der Sohn meiner Freunde ist auch mein Freund. Ein Freund, der irgendwo in dieser Stadt voller Verrückter auf sich allein gestellt ist. Ich werde nicht zulassen, dass ihm irgendwer wehtut, auch nicht er selbst. Ich werde ihn finden, ihn ins Jal bringen und dort mit ihm bleiben, bis er geheilt ist.«
Seine Treue und Gutgläubigkeit rührten Eryne zutiefst. Mehr musste er nicht sagen: Amanon, Zejabel, Nolan und Keb holten ebenfalls ihre Waffen, und gemeinsam machten sie sich auf, die Heilige Stadt nach Cael abzusuchen. Nur Eryne blieb bei Niss in der Herberge.
Das Mädchen war zum Glück vernünftig genug, nicht mehr zu sprechen, was Eryne natürlich guthieß, auch wenn sie darauf brannte zu erfahren, was sich in dem Zimmer abgespielt hatte. Bei Niss’ nachdenklichem Blick und dem Leuchten, das bisweilen in ihren Augen aufblitzte, beschlich sie das Gefühl, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein musste.
Nolan zitterten die Beine, und er spürte seine Füße kaum noch. Seit dem frühen Morgen lief er in der Stadt herum, und das war wesentlich anstrengender, als über Land zu marschieren. Die Pflastersteine waren ausgetreten und rutschig vom Regen, und in den winkeligen Gassen drängten sich so viele Menschen, dass sie kaum durchkamen.
Ihre Suche nach Cael wurde von Dezille zu Dezille aussichtsloser, auch wenn sich Nolan nichts sehnlicher wünschte, als inmitten der vielen fremden Gesichter plötzlich den Jungen zu entdecken. Zunächst hatten sie die Straßen rings um die Herberge abgesucht und dann die
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