Die Krieger 5 - Das Labyrinth der Götter
Gedanken, der ihr unaufhörlich durch den Kopf brauste, machte sie völlig benommen, und das war ihr sonst nur widerfahren, wenn sie schlief oder sich gezielt in den Zustand der Entsinnung versetzte. Nun trat das ein, worauf Zejabel und Nol der Seltsame sie vorbereitet hatten: Bald hätte sie gar keine Ruhe mehr vor den Stimmen in ihrem Innern und vernähme nur noch die Gebete und Klagen der Sterblichen, während sie bereits einer anderen Welt angehörte.
Ihren Freunden sagte sie nichts davon, um sie nicht zu beunruhigen, aber ihr selbst wurde immer schwerer ums Herz. Seit sie zum ersten Mal mit Zejabel über ihre Entwicklung zur Göttin gesprochen hatte, hoffte sie insgeheim, dass der Spuk spätestens mit der Geburt ihres Sohnes vorbei wäre. Schließlich hatten sich ihre göttlichen Fähigkeiten erst mit Beginn ihrer Schwangerschaft gezeigt. Sie hatte sich an die Möglichkeit geklammert, dass alles wieder sein würde wie zuvor, wenn das Kind erst da war: Das war ihr Lichtstreifen am Horizont, ohne den sie längst verzweifelt wäre. Doch nun erschien ihr von Augenblick zu Augenblick unwahrscheinlicher, dass sie ihren Sohn überhaupt zur Welt bringen würde. Die Vollendung ihrer Entwicklung rückte näher. Wenn Sombre sie auf seine Weise nicht doch noch verhinderte.
So wurde Eryne wider ihren Willen von den Sehnsüchten und Ängsten zahlloser Unbekannter verfolgt. Solange sie nicht genau hinhörte, waren sie nur ein undeutliches, monotones Rauschen, aber wenn sie sich auf eine der Stimmen konzentrierte, konnte sie plötzlich die Gedanken eines einzelnen Menschen lesen! Früher, als sie noch am lorelischen Hof ein- und ausgegangen war und gar nicht genug von Klatsch und Tratsch bekommen konnte, hätte sie diese Möglichkeit wohl begeistert; jetzt machte sie ihr Angst. Am meisten verstörte sie, dass sie dabei so viel körperliches und seelisches Leid miterlebte. Doch war sie nicht dazu ausersehen, die Heilende zu sein? So versuchte Eryne, den Schmerz mancher Menschen durch ihr Mitgefühl zu lindern. Sie wurde den Eindruck nicht los, dass sie einen Kampf führte, den sie niemals gewinnen würde, und dennoch konnte sie einfach nicht anders.
Sie lief wie in Trance dahin, bis sie Keb plötzlich sagen hörte, dass es nicht mehr weit sei. Waren sie schon so lange unterwegs? Der Marsch war so eintönig gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie die Zeit verging. Nicht ein einziges Mal war Keb zögernd stehen geblieben, und sie waren keiner Menschenseele begegnet. Während sich der Tag seinem Ende zuneigte und ihre Beine immer schwerer wurden, sprachen die älteren Erben nur noch von den einheimischen Spezialitäten, die ihnen Kebrees Landsleute bald auftischen würden. Eryne musste ihre ganze Kraft zusammennehmen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen und zu den Männern an der Spitze der kleinen Kolonne aufzuschließen.
»Wir müssen das Dorf meiden«, sagte sie aufgeregt. »Dort treibt sich gefährliches Gesindel herum!«
»Woher weißt du das?«, fragte Grigän unbeeindruckt.
»Ich höre Gedanken. Schon seit geraumer Zeit«, gab sie widerstrebend zu. »Unter den Sterblichen in diesem Dorf herrscht Unfriede.«
Sie lief rot an, weil sie das Wort »Sterbliche« gebraucht hatte, aber die vier Männer hatten andere Sorgen.
»Weißt du Genaueres?«, fragte Amanon.
»Es sind nicht nur Wallatten im Dorf. Einige Tuzeener sind auch darunter.«
»Was?«, rief Kebree.
Seine Wangen röteten sich, als hätte ihm jemand eine schallende Ohrfeige verpasst. Sein ganzer Körper spannte sich an, und seine Augen blitzten angriffslustig. Eryne fürchtete schon, er könnte sofort losstürmen, um seine Feinde im Alleingang zu vertreiben.
»Sie kämpfen nicht«, fügte sie hastig hinzu. »Sie leben nebeneinander her, aber ihr gegenseitiger Hass ist deutlich zu spüren. Es tut mir leid«, sagte sie verlegen.
»Niemals hätte meine Mutter zugelassen, dass sich Tuzeener bei uns breitmachen«, empörte sich Keb. »Das wäre Verrat an ihrem eigenen Volk! Selbst die Thalitten sind vertrauenswürdiger als dieses Pack! Was haben diese Hunde bei uns zu suchen?«
Als die übrigen Erben ihn schimpfen hörten, umringten sie das kleine Grüppchen neugierig. Während Amanon ihnen erklärte, worum es ging, stieß Keb wüste Flüche aus und schlug sich mit der Faust in die offene Hand. Hätte Eryne nicht schon so oft bewiesen, dass sie tatsächlich die Gedanken fremder Menschen lesen konnte, hätte er sie wohl der Lüge bezichtigt.
»In
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