Die Kriegerin der Kelten
Erinnerung an jene Nacht war, die sie seelisch und körperlich gebrochen hatte.
Sie klammerte sich an den sich rasch verflüchtigenden Schatten, von dem verzweifelten Bedürfnis erfüllt, ihn festzuhalten und zurückzuholen.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.« Valerius war noch immer da. »Soll ich besser wieder gehen?«
»Nein.« Graine setzte sich auf. »Ich bin ja wach.« Leicht verwirrt schaute sie sich um. »Ich dachte, du wärst unterwegs mit der Neunten Legion, um sie in einen Hinterhalt zu führen?«
»Das war ich auch. Der erste Teil des Überfalls aus dem Hinterhalt ist vollbracht. Jetzt reite ich gerade mit dem Kriegsheer deiner Mutter, um Cunomar bei einem Angriff auf das Nachtlager der Römer zu unterstützen.« Wie er bei ihr in der Hütte sein und gleichzeitig mit den Kriegern reiten konnte, das erklärte Valerius nicht. Graine kam aber auch nicht auf die Idee, ihn danach zu fragen. »Ich kann nicht bleiben«, fuhr er fort. »Ich muss bei den Kriegern sein. Aber ich habe deinen Großvater mitgebracht, damit er zu dir spricht.«
Verdutzt rieb Graine sich die Augen und starrte in die Dunkelheit neben der Tür. »Wieso kann ich ihn nicht sehen?«
»Wenn du mich sehen kannst, dann genügt das vollauf. Was möchtest du ihn denn fragen?«
So viele Fragen. Warum kann ich nicht mehr träumen? Was wird nötig sein, um mich zu heilen? Alle möglichen Worte tanzten wild in ihrem Kopf herum. Aus keinem besseren Grund als dem, weil ihr Blick zufällig gerade auf die Waffe fiel, fragte sie: »Was soll denn nun aus seinem Schwert werden?«
Sie wartete, spähte angespannt in die Dunkelheit. Aus der Gestalt, die Valerius war, sprach nun die Stimme ihres Großvaters: Du bist die Besitzerin, kannst das Schwert aber nicht behalten. Einer, der durch Erde und Himmel an dich gebunden ist, soll es an deiner Stelle tragen und zu deiner Verteidigung schwingen.
»Etwa Hawk?«, fragte Graine. »Er hat den Eid auf Erde und Himmel geleistet und sich verpflichtet, mich zu schützen, aber er ist kein Eceni.«
Stille. Von plötzlicher Panik befallen, fragte Graine: »Valerius?«, und dann, als sie noch immer keine Antwort bekam, brüllte sie fast schon: »Valerius!«
Seine Stimme hörte sich an, als ob sie aus weiter Ferne käme. »Es tut mir leid. Ich muss jetzt gehen. Aber es ist noch jemand hier, der dich unbedingt sehen muss, jemand, der noch im Land der Lebenden weilt. Ein Freund. Darf er hereinkommen?«
»Wenn er ein echter Freund ist, ja.«
Valerius war zu schemenhaft, als dass Graine ihn richtig hätte erkennen können. Dann wich er vollends in die Dunkelheit zurück, und schon kam jemand anderer herein, jemand, der jedoch nicht Hawk war und auch nicht Dubornos oder Ardacos oder sonst irgendjemand aus dem engsten Kreis der Bodicea. Er trat einen Schritt vor, und plötzlich war die Hütte von hellem Feuerschein erfüllt, es tanzte Licht, wo einen Moment zuvor noch tiefe Dunkelheit geherrscht hatte.
Der Neuankömmling ließ sich auf dem Platz nieder, wo für gewöhnlich Hawk zu sitzen pflegte, doch vom Äußeren her war er das genaue Gegenteil des dunklen Coritani: so blond wie frisch gedroschener Weizen, mit leicht welligem Haar und hellen Brauen, die silbrig schimmernde Bogen in einem blassen Gesicht bildeten. Seine Augen waren die einer Wildkatze - an den Rändern von einem ins Grüne spielenden Gelb und durchdringend hell und scharf. Sie beobachteten Graine mit stechendem Blick, häuteten sie förmlich, zerlegten sie und setzten sie schließlich wieder zusammen. Eigentlich hätte sie dabei Unbehagen empfinden sollen, stellte jedoch fest, dass ihr die scharfe Musterung nichts ausmachte. Und so starrte sie lediglich zurück und beobachtete, wie der durchbohrende Blick ihres Gegenübers abrupt milder wurde.
»Es tut mir leid, das war überflüssig.« In einer Geste äußerster Ehrerbietung drückte der Fremde seine Handfläche gegen die Stirn. Er sprach mit einem leicht singenden Tonfall, den Graine manchmal auch in Valerius’ Stimme mitschwingen hörte. »Ich bin Bellos«, sagte er. »Und du bist Graine, die von Nemain ist.«
»Die von Nemain war . Inzwischen bin ich es nicht mehr.« Allmählich fiel es ihr etwas leichter, darüber zu sprechen. Und Bellos zuckte bei dieser Erwiderung auch keineswegs zusammen, so wie ihre Mutter es getan hatte. »Ich kann die Wege zu den Göttern nicht mehr sehen«, fuhr Graine fort. »Deshalb bin ich jetzt nur noch Graine, Tochter von Breaca.«
»Und zugleich auch
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