Die Kristallhexe
entschieden«, widersprach Angela. »Der Zauber kam einfach heraus.«
»Das war eine Entscheidung. Ob du sie bewusst oder unbewusst getroffen hast, spielt keine Rolle.« Alberich stieg über einige umgeknickte Schilfhalme und blieb stehen, um Angela darüber hinwegzuhelfen. Sie benötigte seine Hilfe nicht, nahm sie aber dennoch an. Es gefiel ihr, wenn er sich wie ein Gentleman benahm.
»Ich hatte erwartet, dass du einen Feuerzauber wählen würdest«, fuhr er fort, als er sich wieder umdrehte und weiterging. »Das wäre Ausdruck deiner Drachenseele gewesen. Aber Eis ist interessanter. Kalt, so zerstörerisch wie Feuer, aber berechnender. Das passt zu dir.«
Angela fragte sich, ob das als Kompliment gemeint war. Sie empfand es nicht so. »Ich bin nicht nur kalt und berechnend«, gab sie zurück. »Gerade du müsstest das wissen.«
Er winkte ab. »Ich rede von deinem Verstand, nicht von deiner Seele. Bei den meisten Hexen kommt die Magie aus der Seele, aber du setzt deinen Verstand ein. Ich bin gespannt, welcher Ansatz die besseren Resultate erzielt.«
»Welchen hat denn Angelina gewählt?«
Er zögerte einen Moment. Manchmal schien es ihm nicht recht zu sein, wenn Angela ihn auf seine Urenkelin ansprach.
»Sie beherrschte beide«, sagte er dann. »Aber sie war eine außergewöhnliche Frau.«
Angela runzelte die Stirn. »Aber wenn ich sie bin, werde ich nicht das Gleiche erreichen können?«
»Natürlich.« Alberichs Antwort kam ein wenig zu schnell. »Aber das wird eine Weile dauern.«
Als der Weg vom See abknickte, wurde er breiter und das Schilf niedriger, bis es schließlich von Gras und Blumen abgelöst wurde. Der Weg führte auf den Waldrand zu, aber Alberich ging nicht weiter, sondern blieb stehen und drehte sich zu Angela um.
»Du wolltest lernen, wie man tötet«, sagte er. »Die Waffe hast du bereits, nun brauchst du nur noch ein Ziel.«
Er trat zur Seite und gab den Blick auf die Herde geflügelter Elche frei, die auf der Lichtung grasten. Es waren rund ein Dutzend Tiere. Obwohl einige von ihnen den Kopf hoben und die Eindringlinge musterten, wirkten sie entspannt. Anscheinend wurden sie nicht von Menschen gejagt.
Angela erwartete, dass Alberich weitergehen würde, doch als er die Arme vor der Brust verschränkte, wurde ihr klar, dass sie am Ziel waren.
»Du willst, dass ich einen Elch töte?«, fragte sie und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
Alberich nickte. »Du wolltest töten - also töte.«
Sie musterte die Tiere. Sie wirkten friedlich, ab und zu sah eines auf und warf ihr einen Blick aus braunen, sanften Augen zu. Einige Kälber standen zwischen den erwachsenen Tieren. Zwei von ihnen spielten miteinander, die anderen grasten. Angela stellte sich vor, wie ein Eisspeer sie zerriss, und schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht.«
Alberich schien mit ihrer Antwort gerechnet zu haben, denn er reagierte weder überrascht noch ärgerlich. »Warum nicht?«
»Sieh sie dir doch an.« Sie zeigte auf die Kälber. »Das sind keine mordgierigen Bestien wie der Feind, den du eben beschrieben hast, sondern harmlose, friedliche Tiere. Sie haben mir nichts getan.«
»Das Huhn, das wir gestern Abend gegessen haben, hat uns auch nichts getan. Trotzdem ...«
Angela unterbrach ihn mit einer Geste. »Das sind zwei verschiedene Dinge. Wir haben es gegessen. Den Elch soll ich nur töten, damit du sehen kannst, ob ich dazu in der Lage bin.«
»Wir können ihn gern danach essen, wenn du möchtest.« Alberich nahm ihren Einwand offensichtlich nicht ernst. »Töte ihn jetzt. Ich habe noch viel in der Bibliothek zu tun.«
Sie streckte trotzig das Kinn vor. »Nein.«
Ärger blitzte in Alberichs Augen auf. Er machte einen Schritt auf Angela zu. Für einen kurzen Moment bekam sie Angst vor ihm. Dann verflog das Gefühl ebenso wie der Ausdruck in seinen Augen.
»Du musst es tun«, sagte er, »nicht, weil ich dich darum bitte, sondern für dich selbst. Du bist Angelina, du trägst die Drachenseele in dir. Eines Tages wirst du meine Königin sein, wirst an meiner Seite über Innistìr herrschen. Dann wirst du Entscheidungen treffen müssen, die weit schwieriger sind als diese. Du wirst ganze Dörfer voller Unschuldiger ausrotten müssen, nur weil einer darin sich uns entgegengestellt hat. Du wirst mit eiserner Hand herrschen, da das die einzige Sprache ist, die deine Untertanen verstehen. Wenn die Zeit gekommen ist, diese Befehle zu geben, musst du dir vollkommen sicher sein, dass du sie geben
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