Die Kristallhexe
kannst, sonst werden die, die uns hassen, dich in den Staub treten.«
Er war noch näher herangekommen, stand nun so dicht vor ihr, dass sie ihr eigenes Gesicht als Spiegelung in seinen Augen erkennen konnte.
»Töte ihn.« Seine Stimme klang beschwörend. Wind zerzauste sein Haar. »Töte ihn und beweise dir selbst, dass du eine Königin bist.«
Eine Königin. Dem Wort haftete etwas Magisches an. Vor ihrem geistigen Auge sah Angela sich auf einem Thron sitzen, umgeben von einem Hofstaat, ausgestattet mit der Macht über Leben und Tod. Sie würde Städte errichten und Kriege führen, Soldaten ebenso wie Unschuldige ins Verderben schicken, nur um ihr Reich zu erhalten. Was war da schon ein Elch?
Sie nickte wortlos. Ihr Mund war auf einmal zu trocken, um Alberich zu antworten. Über seine Schulter hinweg betrachtete sie die Elchherde. Sie suchte sich ein Tier mit einem prächtigen Geweih aus und hob den Kristall, den sie nach wie vor in der Hand hielt. Er war so warm wie ihre eigene Haut, als wäre er bereits ein Stück von ihr.
Alberich trat zur Seite. Angelas Blick glitt über die Elche, blieb an einem mittelgroßen Tier mit kleinem Geweih hängen. Es unterschied kaum etwas vom Rest der Herde; weshalb sie gerade es aussuchte, konnte sie nicht sagen.
Ich will das nicht tun. Sie schob den Gedanken beiseite und horchte in sich hinein. Zum ersten Mal konnte sie die Magie klar identifizieren. Wie ein Geysir brodelte sie, bereit, auf ein Kommando aus ihr zu schießen und zu tun, wonach es Angela verlangte. Diesen Teil von ihr hatte sie noch nie gespürt, doch nun konnte sie sich nicht mehr vorstellen, ohne ihn zu sein. Diese Kraft war wie Luft in ihrer Lunge, ein unersetzlicher Teil ihrer selbst.
Sie schloss die Hand um den Kristall, bis die Kanten schmerzhaft in ihre Haut schnitten. Der Elch drehte sich, so als wolle er an einer anderen Stelle weitergrasen, verharrte dann aber und hob den Kopf. Sein Blick traf Angelas. Zwei, drei Sekunden sahen sie sich an, Opfer und Täter, dann biss Angela sich auf die Lippe und entfesselte ihre Magie.
Dieses Mal entstand keine Eislanze. Stattdessen röhrte der Elch plötzlich und stieg auf wie ein Pferd. Er entfaltete seine Schwingen, doch bevor er sie zum ersten Mal schlagen konnte, erstarrte er. Eine Schicht aus blauem Eis überzog ihn, zuerst die Hinterläufe, dort, wo sie den Boden berührten, dann den Rücken, die Flügel, die in die Luft ragenden Vorderläufe und schließlich den Kopf. Angela war dankbar, als die vor Entsetzen geweiteten braunen Augen hinter dem Eis verschwanden.
Wie eine Statue stand der gefrorene Elch auf der Lichtung.
Die anderen Tiere wichen zurück. Innerhalb weniger Lidschläge breiteten sie ihre Schwingen aus und bildeten einen Kreis, in dessen Mitte die Kälber standen. Sie streckten die Hälse aus und hielten die Nüstern in den Wind. Einige schnaubten nervös.
Angela wandte sich von ihnen ab. »Bist du zufrieden?«, fragte sie.
Alberich hob eine Augenbraue. »Willst du mir nicht das Finale gönnen?«
Sie wusste, worauf er sich bezog. »Nein, ich werde ihn in diesem Zustand belassen, damit du nie vergisst, dass ich jede Entscheidung treffen kann, die notwendig ist.«
Er wollte darauf antworten, aber sie ließ ihn stehen und machte sich auf den Weg zurück zum Turm. Alberich folgte ihr, blieb jedoch ein wenig zurück. Angela war froh darüber, denn so konnte er wenigstens die Tränen nicht sehen, die ihr über die Wangen liefen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie den Blick des Elchs, seine Unschuld und sein Unverständnis.
Das war falsch, dachte sie. Ich hätte das nicht tun sollen.
»Bist du müde?«, fragte Alberich, kurz bevor sie den Turm erreichten. Es waren die ersten Worte, die er seit dem Tod des Elches sagte.
Sie schüttelte den Kopf. »Mir geht es gut.«
»Dann können wir ja weitermachen.«
»Nein, mir reicht es für heute. Ich möchte ein Bad nehmen und etwas essen.«
Vor ihr glitten die Schatten um den Turm, die Tür ins Innere stand offen. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie Marcus Julius Secundus neben dem Eingang. Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand und beobachtete Angela.
»Was macht er da?« Sie blieb stehen. Als Alberich nicht antwortete, drehte sie sich um und stutzte. Er war verschwunden. Der Weg, der vor ihr lag, war leer.
»Alberich?«
Keine Antwort, nur das Summen der Insekten und der Gesang der Vögel in den Bäumen.
»Alberich?«
Angela sah sich um, aber er war
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