Die Kristallhexe
Secundus dort sah war seine Vergangenheit. »Es gab keinen Widerstand. Die jungen Männer waren längst in die Wälder geflohen, die Alten, Kranken, Frauen und Kinder versammelten sich. Sie hatten gewusst, dass wir kommen würden, so wie immer.«
Er verlor sich in seinen Erinnerungen und brach ab. Kritodemos nahm die Geschichte auf. Keiner der Schatten bewegte sich mehr. Wie schwarze Irrlichter schwebten sie über dem Boden und hörten zu.
»Der Kommandant wurde wütend, als die Dorfbewohner ihn verhöhnten. Er hatte einen Befehl zu befolgen, doch um die Männer zu finden, hätte er seine Einheit in die Wälder führen müssen - und das wäre Selbstmord gewesen. Also tat er das, was Männer mit Waffen gern tun, wenn sie von denen, die keine Waffen besitzen, vorgeführt werden. Er befahl, alle Bewohner umzubringen und das Dorf niederzubrennen.«
Kritodemos sah Secundus an, wartete, dass der übernahm. Zu Angelas Überraschung tat er das. »Über die Hälfte der Bewohner waren Kinder. Sie hatten nichts Falsches getan. Überall wurde geschrien. Ich bat den Kommandanten, den Befehl zurückzunehmen. Er schlug mir mit der Peitsche ins Gesicht. Also zog ich ihn vom Pferd und stach zu.«
Secundus hielt inne und hob die Schultern. »Die anderen führten den Befehl bereits aus. Ein paar von ihnen sahen, was ich getan hatte. Als sie ihre Schwerter auf mich richteten, erkannte ich, dass sie mir nicht gratulieren wollten. Ich lief davon, aber ich war nicht schnell genug. Und jetzt bin ich hier.«
Angela runzelte die Stirn. »Du wurdest verflucht, weil du versucht hast, das Richtige zu tun?«, fragte sie verwirrt. »Hätte nicht dein Kommandant verflucht werden müssen? Er wollte doch Unschuldige töten.«
Secundus hob erneut die Schultern. »Aber er ist nicht desertiert. Der Fluch trifft nur die, die sich dieses Vergehens schuldig machen.«
»Nein.« Kritodemos schüttelte den Kopf. »Der Fluch trifft all die, die illoyal sind, das ist ein großer Unterschied. Wer seinem Kriegsherrn die Treue schwört und diesen Eid bricht, aus welchem Grund auch immer, wird verflucht. Uns wird diese Schattenform auferlegt, die wir nur für kurze Zeit aufgeben können - oder im Kampf.«
»Und dann seid ihr verletzlich wie Lebende?«
»Dann sind wir Lebende«, sagte Kritodemos. »Mit all den Bedürfnissen, die dazu gehören. Der einzige Unterschied besteht darin, dass uns die Wunden vorangegangener Kämpfe nicht stören. In der Schattenform sind wir hingegen Geister, die nichts berühren und mit niemandem reden können. Es ist der größte Albtraum von allen hier, eine Ewigkeit in dieser Form verbringen zu müssen. Deshalb dienen wir unserem König mit der Loyalität, die wir im Leben vermissen ließen, denn wenn wir in seinem Dienst sterben, werden wir erlöst. Wenn wir ihn enttäuschen, gibt es nichts mehr, was uns vor dem Schattendasein retten könnte.«
Angela kam der Fluch ungerecht und unverständlich vor. Es gab gute Gründe, zu desertieren oder seine Loyalität aufzugeben. Gerade ein König sollte das verstehen. »Woher kommt dieser Fluch? Wer hat euch hierher gebracht?«
»Der Turm«, sagte Kritodemos.
Marcus Secundus schnaubte. »So ein Blödsinn. Der Turm ist nur ein Gebäude. Wir wurden von den Göttern verflucht.«
Angela wusste nicht, von welchen Göttern er sprach, aber dass der Turm über Fähigkeiten verfügte, die weit über die eines normalen Gebäudes hinausgingen, hatte sie selbst bemerkt. Er versorgte sie und Alberich mit allem, was sie benötigten. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er auch für ihren Schutz sorgte.
Die beiden Männer begannen sich zu streiten, wahrscheinlich zum wiederholten Male. Angela ließ sie stehen und ging zurück in den Turm. Sie fühlte sich auf einmal von ihm beobachtet. Egal, wie sehr sie sich bemühte, sie wurde den Eindruck nicht wieder los.
Langsam stieg sie die Stufen der Wendeltreppe hinauf. Das Schicksal ihrer Wächter berührte sie, erinnerte sie aber zugleich daran, dass ihr eigenes längst nicht geklärt war. Sie musste mit Alberich über das sprechen, was geschehen war. Es war sinnlos, das noch weiter aufzuschieben.
Dieses Mal blieb sie vor der Tür der Bibliothek stehen und klopfte an. »Alberich?«, rief sie. »Kann ich hineinkommen?«
»Moment«, antwortete seine dumpf klingende Stimme. Sie hörte, wie Möbel verrückt wurden, dann ein quietschendes Geräusch wie von einer schlecht geölten Tür. »Komm herein!«, rief Alberich.
Angela betrat die Bibliothek. Sie
Weitere Kostenlose Bücher