Die Kristallhexe
den Sonnenuntergang.
»Das ist ein schlechtes Omen«, sagte Inran nach einer Weile. »Vielleicht sollten wir umkehren.«
Sein Bruder schüttelte den Kopf. Sie hatten beide ihre Gesichtsschleier abgenommen; Hanin konnte erkennen, wie ähnlich sie sich sahen. Beide hatten dunkle Haare und ein längliches Gesicht mit hoher Stirn und schmaler gerader Nase. Yassaf trug einen Vollbart, Inran nicht.
»Blödsinn«, sagte Yassaf. »Das ist kein Omen, sondern Pech.«
»Woher willst du das wissen?« Inran zeigte auf den Turm, sah aber nicht hin. »Du spürst doch auch, dass da etwas nicht stimmt, oder? Vielleicht ist der Turm so mächtig, dass er uns Steine in den Weg legt.«
»Und vielleicht hast du keine Ahnung, wovon du redest.« Nun mischte sich Messan ein. Er und Neranye waren keine Freunde gewesen, das wusste Hanin. Gerade deshalb hatte der Sayasi sie zusammen auf diese Reise geschickt. Sie hatten lernen sollen, einander zu schätzen.
Messan stand auf und zog seinen Gesichtsschleier herunter. Er war ein gut aussehender Mann, groß, mit dichtem, dunklem Haar und einem glatt rasierten, kantigen Gesicht. Es hätte hart gewirkt, wären seine braunen Augen nicht gewesen, die immer ein wenig amüsiert wirkten, so als wäre das ganze Leben ein Spiel, das man nicht allzu ernst nehmen musste.
Doch an diesem Tag nahm er es ernst. »Wir werden uns nicht von abergläubischem Gequatsche beirren lassen«, sagte er. »Wir sind Assassinen, keine alten Weiber, die Angst vor ihrem eigenen Schatten haben.«
Seine Worte brachten Inran zum Schweigen, aber Hanin glaubte nicht, dass sie ihn beruhigten. Gedanken ließen sich nicht verbieten.
Sie fuhr sich mit der Hand über ihr Gesicht. Sie hatte Neranye gemocht, seine ruhige Art, seine unauffällige Präsenz, die über seine wahren Fähigkeiten hinwegtäuschte, und seine Lebenserfahrung. Er war älter geworden als viele andere Assassinen - die Gefahren, denen sie sich aussetzten, wirkten nicht gerade lebensverlängernd - und hätte wahrscheinlich nicht mehr viele Missionen bewältigt. Wie viele andere auch hatte er angestrebt, ehrenvoll im Kampf zu fallen. Diesen Wunsch hatten ihm die Götter gewährt, Hanin wünschte nur, es wäre unter anderen Umständen geschehen, nicht bei einer zufälligen Begegnung mit einem Raubvogel, der sich die falsche Beute ausgesucht hatte.
Es lässt sich nicht mehr ändern, dachte sie. Er ist tot, und wir leben.
»Wir werden unsere Mission wie geplant fortsetzen«, sagte sie. »Sobald es dunkel ist, brechen wir zum Turm auf.«
Messan und Yassaf nickten zustimmend, nur Inran verzog das Gesicht. »Ich hoffe, du triffst die richtige Entscheidung.«
»Du wirst schon merken, wenn es die falsche war.« Messan grinste nun doch. Der Humor kehrte langsam in seine Augen zurück.
So schnell wenden wir uns anderen Dingen zu und lassen den Tod hinter uns, dachte Hanin. Sie lehnte sich an den Felsen, zog Neranyes Schwert hervor und begann damit, es langsam und methodisch zu säubern und mit dem Wetzstein zu schärfen, den sie ebenso wie die anderen Assassinen stets bei sich trug. Die rhythmischen Bewegungen brachten ihre Ruhe zurück. Sie versank in ihrer Arbeit, bis es zu dunkel wurde, um weiterzumachen.
Die anderen erhoben sich, als Hanin aufstand. Sie hatten ihre Gesichtsschleier wieder angelegt und ihre Kleidung von Staub und Dreck befreit. Nun standen sie vor Hanin, gehüllt in schwarzblaue Gewänder, die das Restlicht des Tages zu schlucken schienen. Ihre Lederstiefel waren so weich, dass man sich so lautlos in ihnen bewegen konnte, als ginge man barfuß. Der dunkle Turban verbarg ihre Gesichter.
Hanin steckte ihren eigenen Gesichtsschleier fest. Diese Vorbereitungen auf den Kampf waren ein Ritual, das ihnen noch einmal verdeutlichen sollte, was sie waren und was sie konnten.
»Ihr seid Assassinen«, sagte sie zu den drei Männern. »Macht eurem Orden Ehre.«
Sie alle kreuzten mit geballten Händen die Arme vor der Brust, dann brachen sie auf. Niemand sagte etwas, nicht einmal Inran stellte eine Frage. Sie fielen in einen leichten Trab. Stundenlang zu laufen, ohne sich zu verkrampfen, war eines der ersten Dinge, die man als Anwärter lernte. Das frustrierte diejenigen, die nur darauf aus waren, töten zu lernen, und sorgte meist dafür, dass die aufgaben, für die der Orden nicht der richtige Ort war. Doch wer durchhielt, erkannte rasch, dass ein Assassine nur etwas taugte, wenn er nicht keuchend und mit zitternden Knien an seinem Ziel ankam.
Den Weg,
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