Die Krone der Macht
dass doch er es gewesen war, der Sarja erst auf den Gefahrenpunkt aufmerksam gemacht hatte, und dass schließlich auch er die Lösung des Problems gefunden hatte. Doch dem sonst so weitsichtigen Nador gelang es nicht, über seine Fußspitzen hinaus zu sehen, sobald etwas Sarja und ihn betraf.
Es war schon dunkel geworden, als sie eine Stelle erreichten, von wo sie nur noch eine leichte Steigung hinauf mussten, um von dort in das sanft abfallende Tal hinunter reiten zu können. Doch Nador wollte nicht ins Tal hinunter.
„Hier oben auf dem Kamm sind wir sicher. Zwar ist es hier nicht windgeschützt, aber dafür haben wir freie Sicht nach allen Seiten. Wenn immer zwei auf Wache stehen, kann uns niemand überraschen“, meinte er.
Sein Vorschlag wurde sofort angenommen. Nachdem das Lager aufgeschlagen war, teilte Nador die Wachen ein. Die erste Wache sollten Sarja und Ástino übernehmen, dann sollte je einer der Calarier mit einem der nabeischen Krieger wachen, und die letzte Wache vor Morgengrauen wollte er zusammen mit Farsten übernehmen. Immer nach drei Stunden sollten die Wachen abgelöst werden. So würden sie alle genug Schlaf bekommen.
Nachdem sie gegessen hatten, zogen sich daher Ástino und Sarja auf ihren Posten zurück. Sie wählten dafür eine kleine Erhöhung, von der aus sie sowohl das Lager als auch die übrige Umgebung gut im Auge hatten. Die Stelle lag etwas abseits vom Lager, so dass niemand hören konnte, was sie miteinander sprachen. Schweigend und eng in ihre Umhänge gewickelt saßen die beiden eine Zeit lang da. Sie hatten eine Felldecke auf dem Boden ausgebreitet, denn der Herbst war schon weit fortgeschritten, und Kälte stieg aus dem Boden hoch. Der feinfühlige Ástino wusste genau, dass diesmal nicht er das Gespräch beginnen durfte. Sarja musste von allein bereit sein, sich alles von der Seele zu reden.
Nach einer Weile seufzte sie schwer: „Ach Ástino, ich bin so unglücklich, dass ich am liebsten sterben würde.“ Und dann erzählte sie Ástino die ganze Geschichte ihrer Liebe und des schrecklichen Streits, den sie mit Nador gehabt hatte. Ástino hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Das Zuhören hinderte jedoch nicht seine Wachsamkeit. Er wusste genau, dass Sarja während ihrer Erzählung nicht einmal gemerkt hätte, wenn jemand unter ihnen die Decke weggestohlen hätte.
Als sie ihren Streit mit Nador schilderte, hatte sie zu weinen begonnen, und als sie geendet hatte, wurde ihr Schluchzen noch heftiger. Ástino ließ sie eine Weile weinen, dann legte er den Arm um ihre Schultern.
„Hör mir nun einmal zu, Sarja“, sagte er. „Ihr beide habt euch da in eine Situation hineingeritten, die sich nur lösen lässt, wenn beide Seiten Einsicht zeigen. Ich kann dich gut verstehen und begreife dein Zorn über die angebliche Zurückweisung durch Nador. Doch muss ich dir sagen, dass du zu hart zu ihm warst.“
„Das weiß ich“, sagte Sarja, „und ich würde es gern ungeschehen machen. Aber was soll ich denn tun? Er will einfach nicht verstehen, dass ich mich nicht im Geringsten darum schere, was er ist und wer er ist. Ich liebe ihn so, wie er ist. Aber ich fürchte, er hat im Grunde nichts anderes vor, als ein Weilchen meine Liebe zu genießen, um mich und die Verantwortung dann in die Arme eines anderen Mannes zu legen. Ist das denn Liebe?“
„Du bist ungerecht, Sarja“, widersprach Ástino. „Glaube mir, wenn Nador jemals auf dich verzichten würde, täte er es in dem Bewusstsein, dass das für dich das Beste wäre. Aber das Herz würde ihm dabei brechen. Du sagst, du liebst ihn. Aber heißt das nicht auch zu versuchen, mit den Augen des Partners zu sehen? Sich in ihn hinein zu versetzen, um zu wissen, was er fühlt? Weißt du genau, was Nador fühlt? Sieh ihn einmal nicht mit den Augen einer in ihrem Stolz und in ihrer Liebe verletzten Frau, sondern mit meinen Augen. Ich sehe ein Kind, das verstoßen von seinen Eltern in der kalten Umgebung eines Tempels aufwächst. Ich kenne die Priester des Usoras. Sie sind berechnende Perfektionisten. Zuerst nahmen sie den Knaben auf, weil sie viel Gold dafür bekamen und weil sie glaubten, vielleicht irgendwann aus seiner Herkunft Nutzen ziehen zu können. Das entsprach ihrer Habgier. Dann entdeckten sie, dass er ungewöhnlich klug war, und schulten seinen Geist, schliffen ihn wie eine Waffe aus edelstem Stahl. Das entsprach ihrem Sinn für Vollkommenheit. Sie hätten vielleicht einen Halbgott aus ihm
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