Die Krone von Lytar
seinen Schuppen ab. Allein die Flügel des Drachen schienen verletzbar zu sein, weshalb er nun auch so schnell flog, dass man nicht mehr gut auf ihn zielen konnte. Und immer wieder brach Feuer aus seinem furchterregenden Maul und setzte Haus um Haus in Brand.
Als schon alles verloren schien, trat auf einmal Gernut, Garrets Großvater, mitten auf die Straße. Er war einer der Ältesten der Stadt und schon so alt, dass er fast nur mehr in seinem Schaukelstuhl zu sitzen und über seinen Enkel den Kopf zu schütteln pflegte, obwohl es hieß, dass Garret seine Liebe zum Fischen von ihm geerbt hatte. Gernut vermochte sich nur noch mit Krücken zu bewegen, aber an diesem Abend stand er da, einen Pfeil in der linken Hand, seinen mächtigen Bogen, den er seit zwanzig Jahren nicht mehr gespannt hatte, in der rechten. Er stand ohne Krücken da, mitten auf der Straße, und sah dem Biest gefasst entgegen, als sich dieses auf das einsame Opfer stürzte. Erst als Gernut das Feuer schon in den Nüstern des Untiers aufleuchten sah, spannte er den mächtigen Bogen so leicht, als ob er noch ein junger Mann wäre, und schoss seinen einzigen Pfeil ab. Geradewegs ins Auge des Untiers, so tief, dass er bis zu den Federn am Schaftende darin verschwand. Eine Wolke aus Feuer umhüllte Garrets Großvater, aber der Drache stieß einen Schmerzensschrei aus, der voller Wut und Hass über das ganze Tal hinweg hallte. Mit angehaltenem Atem sah ein jeder von uns zu, wie sich das Tier wieder zu fangen versuchte. Wir hofften darauf, dass es tödlich verletzt sein würde, doch es gewann rasch wieder an Höhe und flog schließlich davon. Geschlagen, nicht von einer Armee, sondern vom Pfeil eines einzigen alten Mannes.
Von Garrets Großvater war jedoch außer den schweren Stiefeln und dem Bogen, der wie durch ein Wunder nicht verbrannt, aber nun schwarz wie die Nacht war, nichts übrig geblieben. Sein Opfertod war jedoch nicht umsonst gewesen, denn der Drache war weg, zumindest im Moment.
Ganz Lytara war erschüttert und entsetzt. Die Armee hatte uns kaum geschadet, doch dieses Untier hatte allein beinahe das ganze Dorf verwüstet. Allein die Tatsache, dass viele unserer Dächer mit gutem Schiefer gedeckt waren, kam uns nun zugute. Trotzdem, der Preis war hoch. Wir bauen hier aus Stein, deshalb hatten selbst die Häuser, die Feuer gefangen hatten, nur das Dach verloren. Dennoch lagen am nächsten Morgen vierzig Tote in einer Reihe auf dem Marktplatz, und wir zählten unzählige Verletzte. Wir verfluchten die Angreifer, die uns unsere Heilerin genommen hatten, und beteten für Sera Tylane, denn jeder von uns ging davon aus, dass wir sie nie wieder sehen würden.
Die Ältesten riefen uns am Brunnen zusammen, und jeder, der gehen konnte, leistete dem Aufruf Folge: Garen, Gemüts Sohn und Garrets Vater, Ralik und all die anderen. Es war das erste Mal, dass Pulver, seitdem man ihn kannte, ohne ein Lächeln auf den Lippen dort auftauchte. Der Geruch von Rauch hing noch immer in der Luft, und viele versorgten ihre Wunden, während sie darauf warteten, dass der Bürgermeister zu sprechen anfing. Es war ein bedrückender Morgen, und obwohl so viele Menschen um den Brunnen herumstanden, war es dennoch still. Keiner sprach ein einziges Wort. Es war gespenstisch.
Endlich ging ein Raunen durch die Menge, und einige Leute deuteten auf das Dach des Wirtshauses, denn dort sah man etwas, das man seit Menschengedenken nicht mehr gesehen hatte. Auf dem Flaggenmast des alten Wirtshauses, des ältesten Gebäudes unseres Dorfes, wehte eine Flagge, die wir vom Hörensagen kannten, aber noch nie mit eigenen Augen gesehen hatten. Trotzig und stolz entfaltete sich das alte Banner und knatterte im leichten Wind. Es war das Banner von Lytara, das einen aufrecht stehenden Greif auf goldenem Grund zeigte. Die eine Klaue ruhte auf dem Knauf eines Schwertes, dessen Klinge nach unten gerichtet war, die andere hielt eine Sichel in die Höhe. Unter seinem Körper lag eine besiegte Schlange.
Jedermann sah zu der Flagge hoch, die uns daran erinnerte, dass Lytara immer noch ein Königreich war, auch wenn es vor langer Zeit unterging und keinen König mehr hatte. Aber es galt, was Pulver einmal so trefflich formuliert hatte: Selbst nach all der Zeit floss immer noch das königliche Blut unserer Vorfahren in unseren Adern, und damit waren wir in übertragenem Sinn alle Könige.
Dieses Banner erinnerte uns daran, dass wir einst ein mächtiges Reich gewesen waren, uns nach dessen
Weitere Kostenlose Bücher