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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Mitternacht geschlagen. Als ich da noch immer nicht gestand, ließen sie mich in Reitposition stehen, nach einer Weile starben mir beide Beine ab, ich schwankte. Ich durfte nicht schlafen, mich nicht setzen, sonst wurde ich gefoltert. In der fünften Nacht mit Folter und meinem Geschrei nach Papa und Mama waren sie es selbst müde und meinten, was da in der Menge geschehen sei, die Namen wollten sie alle wissen, wenn du das nicht willst, dann musst du allein die Verantwortung dafür tragen. Anschließend zählten sie eine Menge Namen auf, lauter Bekannte von mir, die alle mit mir am Abend des 4 . Juni gesprochen hatten. Es fehlte keiner. Ich sagte, wenn ihr schon alles wisst, warum fragt ihr dann noch, schreibt die Namen doch direkt auf, nach Bestimmung und Paragraph, nur übertreiben dürft ihr nicht, ich unterschreibe.
    Das meinen sie, wenn sie sagen, sie bekommen jeden klein. Und das führt dazu, dass eine Menge von Komplizen einander nicht traut, im Gefängnis und im Arbeitslager sind wir einander begegnet, aber wir wollten nicht miteinander reden. Viele Jahre später habe ich jemanden getroffen, den die Polizisten aufgezählt hatten, auch ein sogenannter Mittäter, ich sagte, zwischen uns ist keine Feindschaft und kein Hass, hast du mich denen angegeben, verdammt? Er sagte, Bruder, ich habe dich wirklich nicht hingehängt, verdammt.
    LIAO YIWU:
    Waren Sie ein Haupttäter?
    WANG LIANHUI:
    Im Bezirk Daxing, nein, damals hieß das noch Kreis Daxing, ein Vorort weit draußen. Im Vergleich zu Beijing war es hier nicht schlimm, aber die Polizei bei uns wollte am Ball bleiben, sie wollten sich ein paar Lorbeeren verdienen, also haben sie das mit uns ein wenig aufgebauscht. Deng Xiaoping und Wang Zheng haben Reden gehalten, wie viele Leute zu töten seien und wie viele Jahre die Hoheitsgewalt des Volkes zu schützen sei. Ich war diese drei Monate im K-Gebäude, die Tage vergingen wie Jahre, und dann glaubte ich noch, es würde mir an den Kragen gehen.
    LIAO YIWU:
    Aber Ihr Verhalten war doch nicht derart wild.
    WANG LIANHUI:
    Im Vergleich zum Abfackeln von Militärfahrzeugen, der Errichtung von Straßensperren und dem Prügeln von bewaffneter Polizei war das wirklich nicht sonderlich wild. Damals haben in Beijing ein paar hundert Fahrzeuge gebrannt …
    LIAO YIWU:
    Selbst in Chengdu waren es ein paar Dutzend.
    WANG LIANHUI:
    In Daxing war es nur diese eine Karre, und sie hat nicht mal gebrannt, und doch stand ich auf der Liste ganz oben. Sie mussten das Soll vollmachen, auf Teufel komm raus. Es gab zwei Voruntersuchungen, ohne Schläge und Beschimpfungen, sie gaben mir sogar was zu rauchen; das Corpus Delicti – das Stemmeisen – hatten sie auch dabei, das musste ich identifizieren. Mein Zellenboss meinte, das sei fallentscheidend, wenn du bei dem ersten Verhör unter der Folter ein falsches Geständnis gemacht hast, dann musst du die Gelegenheit beim Schopf packen, Justizirrtum schreien und den Kopf aus der Schlinge ziehen. Aber ich habe unentwegt Justizirrtum geschrien, es hat nichts gebracht.
    Wissen Sie, warum ich noch am Leben bin? Weil ich unbescholten war. Sie haben im Archiv nachgesehen, Generationen meiner Vorfahren waren arme Bauern, die in tiefstem Elend lebten; und ich selbst war als ehrliches Kind unter der Roten Fahne des neuen China zur Welt gekommen, ich arbeitete hart, hatte keinerlei politischen Fleck auf meiner weißen Weste, ich gehörte nicht zu dem von dem Gesetz sogenannten »gemischten Personenkreis, der schwer und rasch zu verfolgen war«.
    LIAO YIWU:
    Haben Sie das Gefühl, Glück gehabt zu haben?
    WANG LIANHUI:
    Es war derart eng, Brüder. In den paar Tagen haben sie Dutzende erschossen. Vor allem als ich zur Öffentlichen Ordnung Nr. 7 in Beijing verlegt wurde, das war auch das berühmte K-Gebäude, da habe ich geglaubt, das ist mein Ende. Aber zu meiner Überraschung haben sie mich nach drei Monaten wieder zurückgeschickt. Der Zellenboss meinte, Bruder, du bist dem Teufel von der Schippe gesprungen, ich gratuliere, aber wenn man einmal im Nr. 7 die Runde macht, dann sind die drei großen Strafen unvermeidlich.
    LIAO YIWU:
    Die drei großen Strafen?
    WANG LIANHUI:
    Tod auf Bewährung, lebenslänglich und zwanzig Jahre. Nachher dann, am 26 . Dezember 1989 , an Maos Geburtstag, einem eiskalten Tag, habe ich in der Amtsstelle Daxing meine Urteilsbegründung bekommen. Sie kam vom durch den Mittleren Gerichtshof bevollmächtigten Gericht von Daxing. Als ich sah, dass ich lebenslänglich

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