Die Kugel und das Opium
Denn für ein Umerziehungslager muss man nicht vor Gericht, man braucht kein Strafmaß, das Einzige, was man braucht, sind ein paar Sätze von denen, und fertig.
LIAO YIWU:
Richtig, richtig. Nach den Regularien hat der Leiter eines Straßenreviers auch das Recht, irgendwen in ein Umerziehungslager zu stecken.
LIU SHUI:
Ich habe keinerlei öffentliche Reden gehalten, keinen Satz, aber ich bin für ein Jahr und drei Monate in einem Umerziehungslager gewesen. Nur weil ich den patriotischen Impuls nicht unterdrücken konnte und mich auf dem Tiananmen herumgetrieben habe. Im Untersuchungsgefängnis habe ich groß getönt, von wegen »ich beuge mich nicht« – das Ende vom Lied war, dass sie mich zusammengeschlagen und -getreten haben. Hier mein Ringfinger, den haben sie mir mit Gewalt in einen Spalt gesteckt und mit dem Gewehrkolben draufgeschlagen, der Schmerz hat mich fast zerrissen. Der Knochen ist gesplittert, und nachher ist er verkrüppelt geblieben, ich kann den Finger nicht mehr gerademachen.
LIAO YIWU:
So unmenschlich waren die?
LIU SHUI:
Die bewaffnete Polizei beschützt die Kriminellen und hat vor allem politische Konterrevolutionäre fertiggemacht. Wo du gehst und stehst, beim Essen, in deiner Wohnung, wenn du auf die Toilette gehst, du bist ihnen ein Dorn im Auge und sie können dich jederzeit zum Zeitvertreib zusammenschlagen. Diese jungen Kerle kommen aus den ländlichen Gebieten, man hat ihnen eine Gehirnwäsche verpasst, sie glauben, ihre Kampfgefährten in Beijing wären von solchen wilden Tieren wie uns verletzt, geschlagen, verbrannt und aufgehängt worden, also sind sie von einer unersättlichen Wut und lassen ihre ganze revolutionäre Wut an uns Pechvögeln aus. Dem Herrn sei Dank, ich habe nur einen Ringfinger verloren, meine Gesundheit ist nicht ruiniert.
LIAO YIWU:
Ich habe mir sagen lassen, dass die Umerziehungslager schrecklicher sind als die Arbeitslager. Ein Knastbruder von mir, Xu Wanping, war einmal im Umerziehungslager Xishanping in Chongqing, der hat jeden Tag weit über zehn Stunden Fäkalien geschleppt, und wenn er in der sengenden Sonne das Bewusstsein verlor, haben sie ihm ein paar Kellen kaltes Wasser übergeschüttet, und weiter ging die Schufterei. Wenn er die Norm nicht geschafft hat, wurde seine Essensration gekürzt, und wenn es dann nicht mehr ging, wurde er vor aller Augen auf eine Bank gedrückt, man hat ihm die Hosen heruntergezogen und ihm mit Bambuslatten auf das Gesäß geschlagen.
LIU SHUI:
Uns in Gansu fehlte es an Wasser. Wir haben in dem Umerziehungslager Ping’an auch Bauernarbeit gemacht, Weizen gepflanzt, Mais, Sojabohnen und Sorghum. Die Sonne brannte herunter, der Boden war trocken, ich hatte das Gefühl, der ganze Sinn des Lebens besteht darin, in ein Bodenloch Wasser zu gießen. Wenn man das Wasser aus einer Entfernung von über ein, zwei Meilen herangeschleppt und durch eine graugelbe Einöde schnaufend auf das Feld geschafft hatte, war man schweißgebadet, so schweißgebadet, dass man eine Menge Wasser trinken musste, um nicht auf der Stelle umzufallen. Doch je mehr Wasser man in sich hineingoss, umso weniger Fett hatte man in den Eingeweiden, so dass man vor Hunger Krämpfe hatte. Unsere Verpflegung bestand hauptsächlich aus Maisbrötchen, eins pro Mann, vor der Schufterei durfte man nur ein halbes essen, man war im Nu wieder hungrig, dann hat man wieder und wieder ein Stückchen abgebrochen und es sich zwischen die Zähne gesteckt, um den Bauch zum Narren zu halten. Wir haben wie die Kühe Getreide gekaut, wo immer wir was fanden. Junge Sojabohnen und jungen Weizen haben wir uns in den Mund gesteckt und darauf herumgekaut. Wenn man zu viel erwischte, dann ist einem grünes Wasser aus dem Magen aufgestoßen. Die hohen Hänge aus Löß, alles war voll Sand, den konnte man nie abwaschen. Das erste Mal war ich ein Jahr und drei Monate im Umerziehungslager, die einzige Erinnerung ist die an Durst, Hunger und Ungewaschenheit. Außer wenn der alte Himmel die Augen öffnete und es regnete und man mit nacktem Hinterteil im Hof stand und eine Himmelsdusche nahm, habe ich mich nicht ein einziges Mal waschen können. Wenn man geschwitzt hatte, juckte es einen überall, also hat man sich mit beiden Händen gekratzt, hat noch mal Wasser geholt und sich ein bisschen abgerieben. Wie Lehmhunde und Erdferkel. Trotzdem, die Leute in den ländlichen Gebieten von Gansu haben ihr Leben lang kein Wasser, um sich zu waschen. Im Lauf der Zeit nehmen sie die Farbe der
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