Die Kugel und das Opium
hohen Lößhügel an. Verdammt, wenn man so hin und her überlegt, ist eigentlich alles im Gleichgewicht.
LIAO YIWU:
Ist jemand geflohen?
LIU SHUI:
Ziemlich oft sogar. Es war einfach zu hart, wer nicht aus einem besonderen Holz geschnitzt war, der hat es einfach nicht bis zum Ende durchgestanden. Doch wenn sie so einen dann gefasst haben, haben sie ihn totgeschlagen. Ach, dem Himmel und der Erde sei Dank, dass ich von dieser Pforte zur Hölle wieder weggekommen bin. Ich esse nach Herzenslust, ich trinke nach Herzenslust, ich wasche mich nach Herzenslust. Und ich kann zu Hause meinen Pflichten als Sohn nachkommen. Denn meine Mutter ist vor lauter Sorgen herzkrank geworden.
LIAO YIWU:
Als ich meine Zeit abgesessen hatte und entlassen wurde, habe ich mich immer wieder ermahnt, dass ich da nicht wieder hineinkommen darf.
LIU SHUI:
Das ging mir genauso. Aber ich liebe Literatur, vor allem schreibe ich gerne Gedichte, das ist wie eine Sucht. Sie wissen, dass Literaturliebhaber ehrgeizig sind und keine Ruhe finden. Ich habe Beziehungen, habe mich in die Redaktion der Zeitung
Leserfreund
hineingeschafft und bei der Gelegenheit viele literarische Freundschaften geknüpft. Ich bin ein zweites Mal nach Beijing, um am PEN -Club einer Literaturzeitschrift teilzunehmen. Ich habe mich ganze zwei Tage auf dem Tiananmen aufgehalten, die Massen von damals schienen alle von der Erde verschluckt zu sein, keine Parolen, keine Aufregung, keine Demokratie und Reformen, die Fahnen der Diktatur werden nach wie vor gehisst. Verdammte Scheiße, eine Bewegung von Millionen, und dann bringen sie ein paar tausend um, und alles war umsonst. Mit Tränen in den Augen habe ich ein langes Gedicht geschrieben, bin zurück nach Lanzhou und habe die Hilfe meines umsichtigen Chefs gesucht und eine Lyrikkonferenz veranstaltet. Am Jahrestag des 4 . Juni zwei Jahre später ist mein Gedichtband erschienen, Titel: »Auf die Straße gehen«. Er hatte eine ISBN aus Hongkong, ich selbst habe sie für tausend Renminbi gekauft. Dann habe ich mich verliebt und geheiratet.
LIAO YIWU:
Hatten Sie mit allem abgeschlossen?
LIU SHUI:
Widerwillig, also habe ich mich bis zur Insel Hainan durchgeschlagen. Meine literarischen Freunde dort haben mir empfohlen, zur
Inhaberpapiere
zu gehen, einer Wochenzeitschrift, und dann bin ich zur
Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
gewechselt, wo ich Anzeigen gemacht habe. Damals hatte sich die Stimmung des ganzen Volkes gerade gedreht, alles schaute nach dem Geld [26] , deshalb war auch gut Geld verdienen. Aber ich habe einen 4 . Juni-Komplex, sobald ich ein bisschen freie Zeit hatte, bin ich in die Bibliothek und habe Material gesucht. Ich habe eine ganze Menge zusammengebracht, unter anderem Romane, Augenzeugenberichte, Gedichte, Tagebücher, Meldungen aus der Zeit der Studentenunruhen von ’ 89 ; Stadtzeitungen, Provinzzeitungen, offizielle, inoffizielle, aus dem Grenzgebiet oder aus dem Landesinneren, ich habe alles kopiert, geordnet, es waren ein paar dicke Konvolute. Ich habe in der Vorstadt von Haikou ein Zimmer gemietet, das für eine Untergrundredaktion geeignet war.
LIAO YIWU:
Wollten Sie im Land illegal veröffentlichen?
LIU SHUI:
In Hongkong und ganz offiziell, über geheime Kanäle habe ich mit dem Wenhui-Verlag eine Vereinbarung getroffen, das Buch sollte heißen »Die Wahrheit über den 4 . Juni«.
LIAO YIWU:
Sehr mutig!
LIU SHUI:
Das hat mich auch ins Verderben geritten. Damals gab es noch keine Computer, ich habe in der Post in der Nähe ein Postfach eröffnet, Nummer 68 , und dort jeden Tag pünktlich meine Briefe abgeholt. Am Nachmittag des 8 . Juni, kurz nach einem Taifun, wurde ich zu Hause von Unruhe gepackt und bin trotz Regens zum Postamt gelaufen. Voller Ungeduld habe ich das Postfach aufgemacht, aber es war nicht ein einziger Brief drin. Ich war noch ganz bestürzt, als so ein junger Kerl aus einer Ecke wie der Blitz auf mich zuschoss und mit lauter Stimme fragte: Sie sind die Nummer 68 ? Ich nickte unwillkürlich, woraufhin er mich sofort mit beiden Händen packte und mit seinem Polizeiausweis einschüchterte: »Polizei, kommen Sie mit!«
Im Handumdrehen bin ich »zum zweiten Mal in den Palast eingefahren«, wie man so schön sagt. Ich wurde an den Händen und am Hals gefesselt und zum Amt für Öffentliche Sicherheit von Haikou-Stadt gebracht. Ich wurde behandelt wie ein Kapitalverbrecher, sie haben mir Hemd und Hose ausgezogen, nur die Unterhose durfte ich anbehalten, dann wurde ich
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