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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Beibei, ein Nordteil von Chongqing, er war dort der Chef eines Textbüros, deshalb war es für ihn ein Leichtes, das einzige verbliebene Manuskript ein paar Dutzend Mal zu kopieren und in aller Eile an alle möglichen lyrischen Anlegestellen im ganzen Land zu verschicken; den Kopien legte ich in aller Eile einen autobiographischen Brandbrief bei. Mit dem Resultat, dass die Freunde der Untergrundlyrik, die eine Kopie in die Hand bekamen, sie behandelten wie einen Schatz, den Geldbeutel zückten und weitere Kopien erstellten – woraufhin noch viel mehr Kopien der Kopien verschickt wurden und die Zahl der weitergegebenen Exemplare exponentiell stieg; zwar waren am Ende die Exemplare unleserlich, doch die Massen von Lyrikenthusiasten waren nicht willens, damit aufzuhören.
    Wie einer der Helden aus den alten Legenden hab ich mich ein paar Monate hier und dort durchfüttern lassen, und als ich zu meiner Einheit zurückkam, war der politische Wind längst umgeschlagen. Aber ich erfuhr: Die Druckerei war vom Amt für Öffentliche Sicherheit am Tag der Verhandlungseröffnung dem Erdboden gleichgemacht worden, für den Leiter der Druckerei war Feierabend, zweitausend Exemplare der Lyrikzeitschrift wurden vom Kulturbüro eingezogen, wo sie für immer und ewig verwahrt werden würden. Auch meine Wohnung war symbolisch durchsucht worden, meine damalige Frau erzählte, der Polizist, der die Aktion geleitet habe, schreibe selbst Gedichte und liebe Lyrik, habe heimlich meinen Stern verfolgt, weshalb er mit ein paar neuen Beamten in die Wohnung gekommen, einmal durch die Zimmer gegangen sei, um dann den Vollzug seines Befehls zu melden.
    LIAO YIWU:
    Auch wenn Ihr Sprung aus dem Fenster eine stolze Aktion war, so war das doch nur ein Fehlalarm und kann nicht als Hausdurchsuchung gelten.
    LAO WEI:
    Was ich gerade erzählt habe, hat direkt mit dem zu tun, was später passiert ist, denn der Zeuge für die Niederschrift und die Lesung des Gedichts »Massaker«, mein kanadischer Mitangeklagter Michael Day, war gerade zufällig bei Liu Xiaobo zu Besuch und hatte dort eine der Kopiekopien der Lyrikzeitschrift in die Hand bekommen, mir daraufhin geschrieben, sich auf den weiten Weg gemacht und stand eines Tages vor der Tür. Zwei Jahre später hat er oft bei mir gegessen und gewohnt, bis zum Morgen des 4 . Juni, wo ich mit seinem Tonbandgerät den Soundtrack aufgenommen und unter Tränen mein »Verbrechen« auf Band gesprochen habe.
    Von dem Gedicht »Massaker« gab es zwei Mutterbänder, er und ich hatten jeweils eins, das wir in verschiedenen Gegenden des Landes in Umlauf gebracht haben. Im März 1990 habe ich mit ein paar Kollegen das »Requiem« gedreht, ich war Hauptdarsteller und Verfasser. Am 16 . März hat die Staatspolizei uns angegriffen, und das Ensemble des Films »Requiem« wurde zerschlagen.
    Erst an diesem Punkt wurde für mich die wirkliche Macht der Diktatur des Proletariats sichtbar, und die lyrischen Träume, die ich mir über mehr als zehn Jahre vorgegaukelt hatte, waren von einem Augenblick auf den anderen zerstoben. Morgens kurz nach zehn bin ich mit den Corpora Delicti, unter anderem dem »Massaker« und dem »Requiem«, von Shapingba in Chongqing mit dem Bus nach Niujiaotuo, wo ich gerade die Straße überqueren und mit einem anderen Bus zum Bahnhof wollte, als ich sie in militärischem Regenzeug von allen Seiten auf mich zukommen sah.
    Sie nahmen mir den Rucksack ab, mir wurden die Hände auf den Rücken gefesselt, und dann wurde ich auf die hintere Bank eines Polizeiwagens gestoßen, wo sich ein Agent neben mir zähneknirschend das Blut von der Nase wischte, ich hatte ganz unbewusst um mich geschlagen und ihn getroffen.
    »Das ist Widerstand gegen die Staatsgewalt!«, brüllte er und zerrte grausam an meinen Handgelenken, dass die Eisenschellen, die mit Zähnen versehen waren, tief in mein Fleisch schnitten. Vorn auf dem Beifahrersitz saß ein dicker Kerl, der in ein Walkie-Talkie schrie: »Nummer eins ist uns ins Netz gegangen, wir bringen ihn nach Songshan.«
    Die anschließenden Szenen habe ich in meinem dokumentarischen Buch
Für ein Lied und hundert Lieder
beschrieben. Diesmal wurden die Wohnungen meiner sämtlichen Komplizen durchsucht. Unser Kameramann Zeng Lei war Offizier, Oberleutnant, er war während des Krieges gegen Vietnam 1984 an der Front am Laoshan gewesen, damals als Verantwortlicher für das Telekommunikationszentrum der dritten Hochschule für Militärmedizin. Am Morgen des 16. März hat er

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