Die Kugel und das Opium
konnte, nicht aufgenommen wurde. Die letzten sechs Namen auf der Liste hat der Journalist der Nachrichtenagentur Neues China Zhang Wanshu in seinem Buch
Der Urknall der Geschichte
geliefert. Er nennt in seinem Buch 23 Namen, 17 von ihnen hatten wir bereits gefunden, sechs waren uns noch unbekannt gewesen. Diese sechs haben wir nun in unsere Liste aufgenommen. Die Verlässlichkeit der von ihm gelieferten Namen ist relativ hoch. Er erzählt, in den Morgenstunden des 4 . Juni gegen fünf Uhr habe das Postkrankenhaus eine Liste mit 29 Toten veröffentlicht, Jiang Peikun war fast zur gleichen Zeit recherchierend im Postkrankenhaus und erhielt eine Liste mit 28 Namen. Das macht einen Unterschied von einer Person.
Bis zum August 2011 haben wir nun die Namen von 202 definitiven Todesopfern.
Dass wir in der Lage waren, mehrmals eine »Namensliste der Todesopfer des Massakers vom 4 . Juni« zu erstellen, liegt vor allem daran, dass die Menschen, die sich in China für Menschenrechte und Freiheit eingesetzt haben und bei der Katastrophe ihres Rechts auf Leben beraubt worden sind, nicht vergessen wurden und dass die Hinterbliebenen der Opfer und die Verwundeten, die mit Glück überlebt haben, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich gezogen haben. Eigentlich hätte die Arbeit an einer solchen Namensliste und ihre Veröffentlichung von der chinesischen Regierung geleistet werden müssen, außerdem hatten einige hochrangige Vertreter der Regierung aus diesem Grund nach China angereisten Persönlichkeiten entsprechende Zusagen gemacht. Aber bisher ist nichts geschehen. Angesichts dieser Tatsache haben wir als Angehörige der Gemeinschaft der Opfer und als Mütter, die einen Sohn oder eine Tochter verloren haben, beschlossen, mit vereinten Kräften die Arbeit des Sammelns und Ordnens der Namen von Toten und Verwundeten des 4 . Juni auf uns zu nehmen. Natürlich hätten dazu unsere Kräfte allein nicht ausgereicht, und wir hatten die Hoffnung, dass sich immer mehr Menschen dieser Arbeit anschließen würden.
Seit Jahren fragen uns Freunde immer wieder: »Wie viele Todesopfer hat es denn nun eigentlich am 4 . Juni 1989 gegeben?« Diese Frage können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten. Seinerzeit war von Regierungsseite bereits eine Zahl von über 200 Toten eingeräumt worden, darunter 36 Studenten, auch einige Soldaten (siehe den Bericht von Chen Xitong, dem damaligen Bürgermeister von Beijing, 1989 vor dem Ständigen Ausschuss des Volkskongresses). Diese Zahlen verheimlichen offensichtlich eine gewaltige Dunkelziffer. Zur gleichen Zeit, als die Gräueltaten sich abspielten, hat das chinesische Rote Kreuz bereits von 2600 bis 3000 Toten gesprochen. Aber diese Zahl wurde sehr schnell von den offiziell verlautbarten Zahlen überdeckt und später nie wieder angesprochen. Dennoch glauben wir, dass die Zahlen des Roten Kreuzes, wenn sie auch nicht vollständig richtig sein können, doch als Referenzgröße einen relativ hohen Wert haben. Dieser Punkt konnte von unseren Recherchen bestätigt werden. Die Leichen, die wir Angehörigen von Opfern zur Zeit des Massakers in den verschiedenen Krankenhäusern der Stadt mit eigenen Augen gesehen haben, oder die von den Krankenhäusern herausgegebenen Namenslisten von Toten, die wir gesehen haben, übertreffen bei weitem die offiziell verlautbarten Zahlen. So haben die Angehörigen von Du Guangxue, eines der Todesopfer, seinen Leichnam im Xiehe-Krankenhaus ausfindig gemacht, er trug die Nummer 30 . Wo sind aber die Leichen Nr. 1 – 29 ? Wie viele Nummern gab es noch nach der Nummer 30 ? Und doch sind auf unserer Liste nicht einmal die Namen von zehn Opfern, die im Xiehe-Krankenhaus gefunden wurden. Von den Toten, die zur Zeit des Massakers nicht in ein Krankenhaus gebracht und »entsorgt« wurden oder die »spurlos verschwunden« sind, ist noch viel weniger bekannt.
Entsprechend ist diese Liste mit 202 Toten, die wir heute veröffentlichen, auch nur ein extrem kleiner Teil der wirklichen Opfer. Wir werden unsere Suche hartnäckig fortsetzen, aber aus den verschiedensten Gründen werden wir immer langsamer vorankommen, und wir werden nie alle Todesopfer ausfindig machen können. In Anbetracht dieser Tatsache sind wir der Auffassung, dass die heute in der Bevölkerung in Umlauf befindlichen Opferzahlen nicht ausreichend belegt sind, am Ende werden wir sie einer unabhängigen, fairen Überprüfung unterziehen müssen, um zu wahrhaftigen und belastbaren Daten zu
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