Die Kugel und das Opium
. Juni irgendwann rehabilitiert werden? Wenn ja, was zählen dann wir?
Zhang Maosheng,
zum Tode verurteilt
Am Nachmittag des 27 . Dezember 2006 bin ich in der Daunenjacke von Liu Binyan
[7] ,
der längst im Exil gestorben ist, aus der Tür gerannt, erst in den Bus, dann in die U-Bahn, und bin nach anderthalb Stunden an der Weststation am Großen Vortor des Tiananmen, dem Qianmen, angekommen. Das Wetter trübte sich rasend schnell ein, das vorher eher wässrige Schwarz war im Nu dicht. Die Straßenlampen gingen früher an. Unwillkürlich schrie ich nach Wu Wenjian, der die Verbindung hergestellt hatte, aber der, vom Charakter her noch reizbarer als ich, bückte sich gerade, um mich per Handy zu erreichen.
Zwei grobe alte Männer stießen mit den Köpfen aneinander und schielten sich an wie auf Verabredung: Ach, dieser Kerl. Wu hat dann Zhang Maosheng, den Hauptdarsteller dieses Kapitels, vorgestellt, relativ jung, relativ schwächlich. Und da war noch der Hauptdarsteller des nächsten Kapitels, Dong Shengkun, etwas älter und auch etwas kräftiger. Wir schüttelten uns herzlich die Hand, sind hinter Wu Wenjian mit dem Nordwind, der wie mit Messern in die Ohren schnitt, aneinandergeraten, über zwei Kreuzungen hinüber und dann in die Straße mit dem Guanyin-Tempel auf der linken Seite eingebogen. Wir kamen zu einem Dongbei-Restaurant, das den Namen »Zur Weißen Pagode« trug, und die leuchtend rote Fassade hatte uns mit einem Schlag aufgesogen. Hände reiben, hinhocken, bestellen, 56 %iger Roter-Stern-Erguotou. Weil wir aßen und tranken, weil wir, wie wir hier waren, alle gesessen hatten, aber noch viel mehr, weil Wu vorher ein paarmal mit den anderen geredet hatte und die Weichen für alles Weitere gestellt hatte, sind wir schnell miteinander warm geworden.
Zhang Maosheng und Dong Shengkun waren die ersten beiden zum Tode Verurteilten des 4 . Juni, die die Regierung auf freien Fuß gesetzt hat. Nach dem, was die beiden erzählten, haben westliche Medien darüber berichtet, als sie entlassen wurden, und versuchten sie auch telefonisch zu interviewen –, doch sie trafen auf den Widerstand der Familienangehörigen der beiden, »die sind so weit weg, die können euch nicht helfen, der Ärger wird nur größer«.
Ich stellte das Aufnahmegerät auf den Tisch, die beiden sahen einander zwei Sekunden an. Dong Shengkun spitzte den Mund: Zhang Maosheng, fang du an. Und dann kicherte er albern und griff sich an die Ohren wie ein großes Kind: Mann, das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich interviewt werde …
LIAO YIWU:
Bruder, entschuldige meine Direktheit. Aber wenn ich sehe, wie jung du bist – warst wirklich du das, der den Militärwagen angezündet hat?
ZHANG MAOSHENG:
Doch. Sie haben mich damals zum Tode verurteilt, mit einer Bewährungszeit von zwei Jahren, Zwangsarbeit, um zu sehen, wie ich mich führe.
LIAO YIWU:
Die Formulierung hat sich seit 1949 nicht geändert. Als ich klein war, habe ich mich gern unter die Leute gemischt und gelesen, was an den Wänden angeschlagen war; bei Todesurteilen, die sofort vollstreckt worden waren, waren die Namen rot abgehakt; bei Todesurteilen auf zwei Jahre Bewährung waren die Namen rot unterstrichen.
ZHANG MAOSHENG:
Deshalb ist es schon nicht schlecht, wenn ich heute am Leben bin und mit allen reden kann! Ich bin introvertiert, ich bin nicht gut mit Worten, wenn ich etwas Unpassendes sage, müssen Sie mir das ruhig sagen, Herr Lehrer Liao.
LIAO YIWU:
Einfach nur drauflos, da gibt es keine besonderen Regeln. Wann bist du geboren? Was hast du vor dem 4 . Juni gemacht?
ZHANG MAOSHENG:
Ich bin am 23 . Juni 1968 geboren, im Jahr des Affen. Vor dem 4 . Juni war ich einfacher Arbeiter, ich habe in einer Maschinenfirma in der Yongding-Straße im Distrikt Fengtai in Beijing gearbeitet. Am 4 . Juni 1989 war ich noch keine einundzwanzig.
LIAO YIWU:
Und du bist wie viele Beijinger Bürger aus übermäßigem Patriotismus in den 4 . Juni verwickelt worden.
ZHANG MAOSHENG:
Vorher hatte ich nichts damit zu tun. Meine Familie wohnte in Chadian, nicht weit vom Tiananmen, jeden Tag nach der Arbeit bin ich bei uns in der Nähe ein bisschen durch die Gegend gebummelt, das hatte ich mir angewöhnt. Anfang April haben die Studenten überall demonstriert, nachher ist das immer wilder geworden, die Studenten sind nicht mehr in die Schule gegangen und die Arbeiter nicht auf die Arbeit. Da hatte man nichts zu tun, also ist man auf die Straße und hat sich den
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