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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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deinen Rufen nach mir sagen wolltest, mach dir keine Sorgen mehr!
    LIAO YIWU:
    Wann ist Ihr Vater gestorben?
    LIU YI:
    Ach, ein Jahr vor meiner Entlassung. Lungenkrebs im Endstadium, sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht, aber nach ein paar Tagen war schon nichts mehr zu wollen.
    LIAO YIWU:
    Jetzt haben wir 2005 , die Zeit rast, das ist schon wieder acht Jahre her. Und der 4 . Juni ist schon sechzehn Jahre her.
    LIU YI:
    Sechzehn Jahre! Manche sind tot, manche leben noch, manche sitzen noch im Knast. Und die Gesellschaft lebt im Boom. Der Knast macht blöde, als ich raus war, habe ich mich am Anfang nicht getraut, über die Straße zu gehen. Die Menschenmassen machen mich ganz konfus, ich war ängstlich, als hätte ich einem die Brieftasche geklaut. Einmal bin ich dann doch tatsächlich auf eine Hochstraße hinauf (ich erinnere mich, vor dem 4 . Juni 1989 gab es in Beijing noch keine so riesigen Hochstraßen), eine bog nach Osten, eine nach Westen ab, aber ich wusste nicht, wie ich da wieder hinunterkommen sollte. Die Autos sausten nur so an mir vorbei, der Wind, den sie machten, konnte einen wegschaufeln. Ich stand reichlich dumm herum, als ich auch schon jemand schreien hörte: Dummes Arschloch! Wo willst du denn hin? Das waren zwei Verkehrspolizisten, die kamen von weiter hinten gelaufen. Sie hielten mich für einen vom Land. Aber auch wenn einer vom Land ist, darf man ihn doch nicht einfach als dummes Arschloch bezeichnen. Ich bin also auf sie los, wen sie denn hier so beleidigen? Als sie meinen Beijinger Tonfall hörten, haben sie ihren Ton geändert und zurückgefragt: Haben wir Sie beleidigt? Aber wieso laufen Sie über diese Brücke? Wissen Sie nicht, dass man hier nicht gehen darf? Ich sagte, ich hätte noch nie eine Hochstraße gesehen. Wieso? Eure Schirmmützen, sind die was Besonderes?
    LIAO YIWU:
    Als ich entlassen wurde, ging es mir wie Ihnen, ich habe mindestens ein Jahr gebraucht, so lange bin ich in meiner Heimatstadt herumgelaufen wie ein ortsfremder Bauer.
    LIU YI:
    Ich habe mich erst nach ein, zwei Jahren widerstrebend an die Veränderungen in der Gesellschaft gewöhnt. Zuerst war da der Verkehr, dann der Kontakt mit den Menschen. Einmal habe ich an einem Klassentreffen teilgenommen, da war ein ehemaliger Nebenmann von mir, der hat vor Schreck einen richtigen Satz gemacht, als er mich gesehen hat, der hat mich von oben bis unten erst einmal eingehend gemustert, dann hat er mich gepackt und gesagt: Bist du wirklich Liu Yi? Bist du echt? Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte, und murmelte bei mir: Bin ich so schnell so alt geworden? Dass nicht einmal die Mitschüler einen wiedererkennen? Doch da fragt der mich: Bist du nicht beim Ausnahmezustand damals von den Truppen erschossen worden? Wir dachten alle, du bist schon seit Jahren tot. Ich sagte: Ich bin ein Geist, kneif mich mal. Und er hat mich wirklich gekniffen: Du bist echt. Da haben alle sehr bedauernd und gequält gelacht.
    LIAO YIWU:
    Was haben sie bedauert?
    LIU YI:
    In der Erinnerung der Menschen, wenn man da schon ein paar Jahre tot ist und am Ende doch noch lebt und auch noch öffentlich irgendwo auftaucht, macht das nicht das Chaos noch größer?
    LIAO YIWU:
    Wovon haben Sie denn später gelebt?
    LIU YI:
    Mein altes Haus war zwangsabgerissen worden, ich habe in der Nähe einen Plastikverhau zusammengezimmert, vom Boden hoch Ziegelsteine, bis auf gut einen Meter, und habe einen kleinen Tante-Emma-Laden aufgemacht. Jahraus, jahrein und bei Wind und Wetter war das meine Küche, mein Esszimmer, mein Klo, alles.
    LIAO YIWU:
    Das muss sich angefühlt haben, als sei man so was wie ein Penner.
    LIU YI:
    Richtig, richtig. Bei jeder Gelegenheit hat einen die Stadtpolente kontrolliert, bei jeder Gelegenheit bin ich vor ihnen auf die Knie und habe den zuständigen Beamten Vater genannt. Solange sie mir Raum ließen zu existieren, hätte ich ihn alles Mögliche genannt.
    LIAO YIWU:
    Sie waren aber auch einmal der Leiter der Streikposten auf dem Tiananmen.
    LIU YI:
    Wer weiß das noch. Später bin ich von dem Straßenrevier untersucht worden, ich musste den Platz wechseln, mir eine neue Hütte bauen und einen neuen Laden aufmachen. Wieder ein Jahr vom frühen Morgen bis spät in die Nacht, und dann wurde das Geschäft ganz langsam besser.
    LIAO YIWU:
    Ihnen scheint es zu gehen wie den meisten Chinesen, ihnen verpasst das Leben die Gehirnwäsche, nicht?
    LIU YI:
    Es ist zum Heulen, was damals war, das will doch keiner mehr hören, man

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