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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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deine Mutter mit dir.
    LIAO YIWU:
    Wusste Ihre Familie nicht, dass Sie herauskommen würden?
    LIU YI:
    Sie hätten es wissen müssen. Ich vermute, dass sie hinter verschlossener Tür Krach gehabt haben, mein älterer Bruder und meine ältere Schwester zogen bitterböse Mienen. Ich zwang mir ein Lächeln ab, begrüßte sie meinerseits und fragte, ob bei ihnen zu Hause alles in Ordnung sei. Mein Bruder sagte, so weit, so gut, iss was! Daraufhin setzten sich alle an den Tisch, wir aßen, aber es war dicke Luft. Ich habe vergessen, warum. Wahrscheinlich hat mein Bruder irgendwas gemurmelt, ich hätte mir nicht gerade die passende Zeit ausgesucht, um zurückzukommen, da sind wir aneinandergeraten. Da wurde auf den Tisch und auf die Bank geschlagen. Mutter sagte, lass uns gehen, damit Ruhe ist. Als meine Schwägerin in der Küche das hörte, warf sie Töpfe und Schalen hin und keifte laut: Ihr wollt gehen? Dann aber sofort! Niemand wird euch aufhalten!
    Ich sagte, Schwägerin, darf man denn so etwas sagen? Ich verstehe euch ja, ich war zweimal im Gefängnis, ich bin bettelarm und nicht mehr gerade jung. Davor habt ihr Angst, vor meiner Armut, vor meinem schlechten Charakter, dass ich mich gehenlasse, dass ich mich bei euch einniste, dass ich mich von euch aushalten lasse, dass ich euch in der Nachbarschaft unmöglich mache. Aber bei allen guten Geistern, ich bin nur hier, um einmal nach Mutter zu sehen, wenn es ihr gutgeht, dann geht es mir auch gut, auch wenn ich eine Pechsträhne habe und am Ende bin. Meine Schwägerin machte hehe und meinte, wenn ihr so aneinander hängt, dann kann euch geholfen werden!
    LIAO YIWU:
    Was hat Ihr Bruder gesagt?
    LIU YI:
    Er hat den Kopf eingezogen. Anschließend bin ich in ihr Zimmer und habe Mutter geholfen, ein paar Sachen einzupacken. Als wir beide zur Tür hinaus sind, ging es schon auf Mitternacht. Die Geschäfte hatten alle geschlossen, es fuhr kein Bus mehr, die sonst so belebten Straßen waren ausgestorben.
    LIAO YIWU:
    Wie alt war Ihre Mutter da?
    LIU YI:
    Heute ist sie dreiundachtzig, damals war sie achtundsiebzig.
    LIAO YIWU:
    Traurig.
    LIU YI:
    Man gewöhnt sich an alles. Das Leben ist kalt geworden, die Freunde wenden sich ab, das eigene Fleisch und Blut wendet sich ab, in all den Jahren nach dem 4 . Juni habe ich mich daran gewöhnt. Meine Mutter hat viel mehr durchgemacht als ich, sicher größere Abgründe überwunden. Damals hatte ich gerade noch siebenundzwanzig Kuai in der Tasche, meine Mutter lief neben mir her und keuchte, sie hat Asthma. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte keine Ahnung, wo ich hinsollte.
    LIAO YIWU:
    Auf jeden Fall konnten Sie mit der alten Dame nicht noch eine Nacht im Freien und auf der Straße verbringen.
    LIU YI:
    Ich habe überall nach einem öffentlichen Telefon gesucht, erst An den Fünf Kiefern habe ich einen kleinen Laden entdeckt. Es war mittlerweile nach Mitternacht. Mir war ein alter Kamerad eingefallen, unsere Beziehung hatte über all die Jahre seit dem 4 . Juni bis vor meiner zweiten Inhaftierung gehalten, über zwanzig Jahre. Ich war ganz zuversichtlich, rief ihn an, es war jemand da. Er fuhr Taxi. Ich sagte, ich bin Liu Yi, ich weiß nicht wohin. Wo bist du denn? Er sagte, unterwegs auf der Straße, Geld verdienen. Und dann fragte er, Bruder, wann bist du denn rausgekommen? Warum hast du keinen Ton gesagt, unsereins muss doch zusammenhalten. Mir wurde ganz warm ums Herz, ich sagte, ich bin gerade entlassen worden, und dann habe ich erzählt, was zu Hause los war, damit er vorbeikommt und uns abholt, es wäre auch nur für eine Nacht, das würde schon reichen.
    Er versprach es. Also habe ich aufgelegt und gewartet. Es vergingen über zwanzig Minuten, Mutter lehnte an der Wand, sie konnte nicht mehr stehen, sofort habe ich das Bündel hingelegt, damit sie sich setzen konnte. Ich habe meinen alten Kameraden noch einmal angerufen, er sagte, warte noch ein bisschen, die Tour gerade ist ziemlich weit, ich brauche noch gut zehn Minuten, bis ich den hier abgeliefert habe. Geh zurück zu den Fünf Kiefern, dort hole ich dich ab, aber selbst wenn ich rase, ich brauche noch vierzig Minuten.
    LIAO YIWU:
    In dieser Zeit war es schlimmer, arm zu sein, als in den Puff zu gehen, ihr Brüder habt es nicht leicht gehabt.
    LIU YI:
    Das denke ich auch. Aber wer wollte so etwas schon sagen, wenn er nicht so weit heruntergekommen ist? Ich grübele immer noch hin und her, ich war so ein imposanter Kerl, für die Zukunft musste ich vorläufig die

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