Die Kugel und das Opium
kann nur noch als Einzelner zum Tiananmen gehen und ein bisschen bummeln. Unversehens bin ich an den Fahnenmast dort zu stehen gekommen, wo unsere Streikposten am 4 . Juni damals ihr Zelt aufgeschlagen hatten. Heutzutage sind dort Massen von Leuten, die schauen zu, wie die Flagge aufgezogen und eingeholt wird. Da kommen viele von außerhalb, um das voller Ehrfurcht mitzumachen, die Nationalhymne, der Gleichschritt der Soldaten, und dann bekommen sie Tränen in die Augen. Ich stehe in einiger Entfernung, rauche eine nach der anderen, manchmal ein ganzes Päckchen auf einmal.
LIAO YIWU:
Woran denken Sie dann?
LIU YI:
Ich denke daran, dass wir Chinesen allesamt verdammte Ah Qs [18] sind, dass wir nicht wach zu kriegen sind. Auch der 4 . Juni war verlorene Liebesmüh.
LIAO YIWU:
Verlorene Liebesmüh? Schwer zu sagen …
LIU YI:
Ich habe all meine Empfindungen in einem kleinen Aufsatz zusammengefasst, aber ich fand keinen Weg, das Manuskript an den Mann zu bringen. Wenig später hat die Polizei angefangen, mich speziell zu überwachen, manchmal sind sie mehrfach am Tag aufgetaucht und haben auch noch am Abend gegen die Tür gewummert.
LIAO YIWU:
Was haben Sie denn geschrieben?
LIU YI:
Ist alles beschlagnahmt worden. Ich erinnere mich noch an einen Abschnitt: Mein Los ist es, viel zu leiden, ich kehre mit reinem Gewissen in die Gesellschaft zurück. Doch was ich sehe, das sind ganz andere Menschen! Was ich rieche, das ist verschmutzte Luft! Was ich treffe, das sind Horden korrupter Beamter! Ich will wie gestern aufstehen und an das Morgen appellieren – Landsleute, ihr seid unter die Wölfe geraten, wacht auf, erkennt, in welch taubem Heute ihr lebte, kein Hund, kein Schwein möchte so weiterleben.
LIAO YIWU:
Und wie ging das weiter?
LIU YI:
Die Polizei hat mir eine Falle gestellt, und als ich in die Vorstadt im Westen gefahren bin, um Außenstände von zweitausend Kuai einzutreiben, haben sie mir ohne weitere Erklärung Handschellen angelegt. Es gab eine improvisierte Gerichtsverhandlung, man hat mir Einbruch untergeschoben und mich wieder zu vier Jahren verurteilt. Aber eigentlich sind sie zu meinem kleinen Laden und haben den ganzen Tag eine Überwachungsanlage installiert.
LIAO YIWU:
Waren Sie ihnen so viel wert? Außerdem, wie konnte man Sie des Einbruchs bezichtigen?
LIU YI:
Ich hatte mich mit jemandem bei sich zu Hause verabredet, als ich hineinkam, war es ganz ruhig. Ich rief zweimal nach ihm, da schnappte die Falle zu. Scheiße! Verdammte Scheiße!
LIAO YIWU:
Das zweite Mal im Palast, das ist wie Lin Chong aus Versehen in die Halle des weißen Tigers [19] gerät. Viele Rowdys vom 4 . Juni sind noch nicht entlassen worden.
LIU YI:
Das war 2000 . Ich war ein Jahr im Gefängnis Nr. 2 , dann bin ich zur Chadian-Farm verlegt worden, zusammen mit Kleindieben und Grapschern. Das war sehr bitter und deprimierend, darüber will ich nicht mehr sprechen. Im Nr. 2 habe ich Fußbälle genäht, auf der Chadian Baumwolle gepflanzt. Ja, und weil ich mich nicht ungeschickt angestellt habe, wurde ich zum Masseur auf Abruf für die leitenden Kader, was mir ein halbes Jahr erspart hat.
LIAO YIWU:
Zweimal eingefahren, zweimal wieder raus, wie fühlt sich das an?
LIU YI:
Als ich diesmal rauskam, musste ich allein zurück. Verdammt, Einbruch, da schämt man sich doch, sich von jemandem abholen zu lassen. Ich hatte gar nichts mehr, sogar die Klamotten, die ich am Leib trug, hatte mir der Brigadier geschenkt. Ich habe vierzig Kuai Fahrgeld bekommen und bin mit dem Bus zurück nach Beijing-Stadt. Außer meiner Familie habe ich mich bei allen fremd gefühlt, deshalb wusste ich eine Weile nicht, wohin ich gehen sollte. Ich kam wieder zum Tiananmen, saß unter der Gedenksäule und rauchte; als die Packung leer war, war es stockdunkel. Ach, ach, ich seufzte, und da kamen die alten Tränen wieder, wie bei einem alten Hund, der sich nach seinem toten Herrchen sehnt, vor wie vielen Jahren habe ich hier eine Stange Wasser in die Ecke gestellt, daran werde ich mich bis in alle Ewigkeit erinnern.
Auf der Straße blieb ich immer wieder stehen, eine ganze Nacht lang. Ich bin erst am nächsten Tag in die westliche Vorstadt zurückgegangen. Ich war ganz kribbelig, als ich die Treppen hochgestiegen bin und geklopft habe. Nach einer Weile ging die Tür auf. Als meine Mutter mich sah, stand sie da wie angewurzelt, doch das Erste, was sie sagte, war: Mein Junge! Du bist zurück! Und wenn du betteln gehst, diesmal geht
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