Die Kugel und das Opium
mich! Gestern war ich bei ihr zu Hause und habe gehört, wie sie mit ihrer jüngeren Schwester geredet hat: Der Bruder Liu hat es so schwer gehabt, ich lasse es auf keinen Fall zu, dass ihr ihn nicht gut behandelt.
LIAO YIWU:
Wohnt Ihre Mutter noch in dem ersten Zimmer, das Sie gemietet hatten?
LIU YI:
Sie wohnt noch am Youanmen, aber in einem etwas besseren Zimmer. Sie ist in diesem Jahr schon dreiundachtzig geworden.
LIAO YIWU:
Sind Sie erleichtert?
LIU YI:
Na ja, hier konnte ich sie nicht unterbringen, das war zu eng, was sollte ich also tun? Wir konnten uns nur um die Miete und die Lebenskosten kümmern, so ist es ein bisschen mehr Gerenne.
LIAO YIWU:
Ihre anderen Geschwister haben doch alle eine Wohnung.
LIU YI:
Von denen ist nichts zu erwarten. Ich nehme es ihnen nicht einmal übel. Wer hat denn uns Chinesen gesagt, wir sollen eine Reform- und Öffnungspolitik verfolgen, Profit statt Anstand, eine neue Zeit, wo alle korrupt sind? Wir Normalsterblichen rackern uns tagtäglich ab, wir brechen uns das Kreuz, und was haben wir davon? Wir essen im Stehen! Schieben in aller Herrgottsfrühe den Hintern zur Tür raus, ab zur Arbeit, am Mittag zurück, schieben ein paar Bissen Reis mit Gemüse rein, ja, und dann müssen wir auch schon wieder los. So geht das bis zum Abend, und dann Töpfe, Schälchen, Löffel, Schüsseln, Brennholz, Speiseöl, Salz und Reis. Und so immer wieder von vorn, ein ganzes Leben lang, und dann, dann ist Endstation, es tut uns leid, wir müssen Sie freisetzen.
LIAO YIWU:
Das geht den meisten so.
LIU YI:
Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie heute Leute freigesetzt werden, die sind erst dreißig oder vierzig, die sammeln sich tagtäglich ein paar vergammelte Gemüseblätter auf dem Großmarkt zusammen. Obwohl meine Situation im Augenblick so lala ist, aber die Renovierung von meinen dutzend Quadratmetern hat mich zehn-, zwanzigtausend gekostet. Im Augenblick stehe ich noch mit über zehntausend in der Kreide. Man muss sein Leben leben.
LIAO YIWU:
Nach dem, was Deng Xiaoping damals gesagt hat, gehören Sie zu dem Teil der Chinesen, die als Erste reich geworden sind, erst als Sie in den 4 . Juni verwickelt wurden, sind Sie zu einem Rowdy geworden und haben nachher all den Ärger gehabt. Bereuen Sie es?
LIU YI:
Der 4 . Juni, das ist der ehrbarste Teil meines Lebens, der geht über alles, über das »hastige Essen im Stehen«, über »das Reichwerden«, nein, das bereue ich nicht. Auch wenn ich schon Anfang fünfzig bin, aber die Einzelteile meines Körpers sind noch komplett. Ich glaube fest daran, dass ich die Rehabilitierung des 4 . Juni noch erleben werde, zum Trost der unschuldig verurteilten Seelen, den Tag werde ich noch erleben.
Nachtrag
Es ist schon nach elf in der Nacht, das Gespräch ist beendet. Im Topf sind noch viele Knochen übrig. Wir nehmen nur widerstrebend voneinander Abschied und steigen zurück auf die Erdoberfläche, wo der Nordwind heult. Ein hastiger Händedruck. Wu und ich gehen zum Eingang der U-Bahn und erreichen zu unserer Überraschung noch den letzten Zug! Im ganzen Waggon ist außer uns nur ein junger Kerl, der mit ausgestreckten Beinen schläft. Ich nehme an, als man Wu verhaftet hat, war er im gleichen Alter wie er.
Es ist schon halb eins, bis ich zu meiner Unterkunft komme. Mein Kamerad öffnet treu die Doppeltür und lässt mich ein. Er sagt, die Kälte, die ich mitbringe, habe ihn aus seinen Frühlingsträumen gerissen.
Und er fragt mich, ob mein Tag erfolgreich war und weshalb ich über zehn Jahre älter aussehe, als ich bin? Selbst mein Bart, meine Augenbrauen sind weiß.
Ja, ja, mein Gesicht ist gefroren. An diesem Abend habe ich mir eine schwere Erkältung zugezogen. Als es hell wird, stehe ich auf, nehme zwei Schlafmittel und lege mich wieder hin. Als ich wieder wach werde, ist es schon dunkel.
Mein Körper fühlt sich teigig an, wie Nudelteig, ich muss noch mehr Zeit hier vertun.
Hu Zhongxi,
Kommandeur der Todesschwadron »Schwarze Panther«
Das Folgende liegt über vier Jahre bei mir herum, als ich es fertigstelle, ist der 4 . Juni bereits 21 Jahre her. Ich weiß nicht, wie es Hu Zhongxi im Augenblick geht. Sind noch Rowdys vom 4 . Juni in Haft? Aus dem Internet weiß ich, dass die Aktionskünstler vom Tiananmen, Yu Zhijian, Yu Dongyue und Lu Decheng, sich alle ins Ausland abgesetzt haben, Yu Dongyue, den die Torturen in den Wahnsinn getrieben haben, geht es durch die Behandlung langsam besser; aber Wang Lianxi, über den
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