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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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ich noch nicht geschrieben habe, lebt immer noch im Wahnsinn. Er schläft bei der schlimmsten Kälte auf Müllplätzen, verdreht die Augen ins Weiße und ist von wohlmeinenden Menschen ins Krankenhaus gebracht worden.
    Vor Jahren habe ich mit Wu Wenjian telefoniert, ich wollte nach Beijing und Wang Lianxi und ein paar andere interviewen, wurde aber von den Staatsorganen daran gehindert und konnte meine Pläne nicht in die Tat umsetzen. Und die Bänder mit den Aufzeichnungen verschiedener Interviews, die in meiner Hand sind, schiebe ich immer wieder vor mir her, bringe sie nicht in schriftliche Form. Hab ich mich an den vielen tragischen Lebensgeschichten, die schon zu Ende sind oder dabei sind, zu Ende zu gehen, bereits aufgerieben? Ich habe nicht mehr die Kraft wie früher. Aber ich sehe noch kein Ende meiner irdischen Gefangenschaft.
    Als ich mich wieder fange, denke ich an Hu Zhongxi zurück. Das war am 20 . Dezember 2005 , die Sonne schien, aber wegen des heulenden Sturms konnte man sich auf den Straßen kaum auf den Beinen halten. Wieder ist es Wu Wenjian, mein »Rowdy-Informant«, der Ban Zhongyi und mich führt, U-Bahn, Bus, dann Taxi, direkt zum Shazikou im Süden, am dritten Ring. Wir gehen zu einem Dongbei-Restaurant, bestellen Suppe, und Wu Wenjian telefoniert ein paarmal in der warmen Atmosphäre. Nach einer knappen Viertelstunde erscheint ein lascher Hu Zhongxi. Wu Wenjian erhebt sich, stürzt sich jäh auf ihn, zwei Rowdys, die sich wie Hyänen ineinander verbeißen, sich lange umarmt halten, was unser Ban mit der Kamera festhält.
    Anschließend setzen wir uns und stellen einander vor. Wir essen ein bisschen was, und der vierzigjährige Hu Zhongxi öffnet ohne Umschweife die Plaudertasche. Nach zwei, drei Stunden ist die Arbeit beendet, er zeigt uns noch ein Manuskript mit dem Titel »Fünf Jahre › 4 . Juni‹ – einige Gedanken«. Obenauf steht: »Jeder Mensch war in diesem Augenblick gezwungen, eine Wahl zu treffen zwischen entschlossener Kühnheit, Flucht oder Unterwerfung unter die Tyrannei und damit Unterstützung der Verbrecher«.
    Anschließend steht er auf, sagt, er müsse nach Hause: »Die Frau, die Kinder, die Eltern, die sitzen da und machen sich Sorgen, wenn ich einmal aus dem Haus bin.«
    Der arme Teufel hat noch Glück, sagte Wu Wenjian, beneidenswert. Nicht wie ich, meine Frau, meine Kinder, meine Eltern, die treiben irgendwo am Ende der Welt herum.

    HU ZHONGXI:
    Das Leben nach dem 4 . Juni war ein ganz anderes. Die Jahre, die die Kommunistische Partei mich eingesperrt hat, sagen Sie mir, wie viel Geld meine Familie für mich ausgegeben, wie viele Hacken sie sich abgelaufen, wie viele Sorgen sie sich gemacht, wie viele Demütigungen sie erlitten hat. Diese Liebesschuld kann ich nie wieder begleichen! Ach, mein Leben hier ist ein einziger Reinfall!
    LIAO YIWU:
    Was haben Sie vor den Studentenunruhen gemacht?
    HU ZHONGXI:
    Arbeiterklasse. Auf »höchste Weisung« vom alten Mao sollte die Diktatur des Proletariats sich auf uns stützen. Meine Einheit war eine Bereitstellungsstation für den Im- und Export, am 12 . Mai 1989 bin ich zum Beijinger Hauptbahnhof und habe einen Präsidenten gesucht, wegen irgendwelcher Verhandlungen, aber irgendwie bin ich von der Massenbewegung angesteckt worden, habe mich in die Demonstrationen verwickeln lassen, so etwa wie heute die zornigen jungen Patrioten.
    LIAO YIWU:
    Aber die sind heute alle im Internet.
    HU ZHONGXI:
    Das gab’s damals nicht, auch nichts Virtuelles, aber wenn du dein Land liebst, dann zeig dich am helllichten Tag und trainiere wirklich. Am 19 . Mai drangen die Militärfahrzeuge in die Stadt vor, auf verschiedenen Routen, mächtig, aber sie wurden von den Massen an der Liuli-Brücke im Bezirk Fengtai gestoppt, wie an allen anderen Orten.
    LIAO YIWU:
    Damals hatten die Truppen noch keinen Schießbefehl erhalten.
    HU ZHONGXI:
    Richtig. Richtig. Eine Menge Soldaten trugen gar keine Waffen. Aber wir waren übermütig, als ob wir ein Fest feiern würden. Am Abend des 20 . Mai habe ich mir in der Demonstrationskolonne den Hals mit Parolen heiser geschrien und noch ein Transparent über meinem Kopf geschwenkt. Als alles vorbei war, haben die Führer des Unabhängigen Zusammenschlusses der Beijinger Hochschulen mich gesucht, sie wollten, dass ich ein ständiges Mitglied eines Unabhängigen Zusammenschlusses der Arbeiter werde.
    Ich habe keinen Ton von mir gegeben, mir wird das ziemlich peinlich. Am 22 . Mai haben wir dann noch auf

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