Die Kunst des guten Beendens
endgültigen Abschied zu erproben. Mit wem würde ich danach reden? Wollte ich überhaupt diesen Prozess beenden? War ich standhaft und flexibel genug auf dem Surfbrett meines Lebens? Was würde ich in Situationen großer Angst machen? Wie würde ich mit meiner Sehnsucht nach der Geborgenheit auf der Couch umgehen? Ich wusste, dass ich diese Unsicherheit auszuhalten hatte. Es gab auch die Phasen, wo ich mir nicht so viele Gedanken um das Ende machte, sondern offen dafür war, wie es werden würde.
Diese Monate waren eine große Übung darin, mir selbst immer mehr zu vertrauen. Anhand meines Tagebuches schrieb ich in wochenlanger Knochenarbeit den jahrelangen Analyseprozess auf und verzweifelte fast dabei. Der Ansturm der Erinnerungen und Gefühle war immens. Doch die Arbeit lohnte sich, weil mir nun mehr und mehr bewusst wurde, welche Entwicklung ich bisher durchgemacht hatte und in welchen Themen ich noch mittendrin war. Es tröstete mich ein bisschen, nicht ganz, weil ich aus Erfahrung wusste, dass ich mit ganz angstvollen und verzweifelten Momenten, auch mit meinen Fluchttendenzen, immer würde rechnen müssen. Und doch: ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben nicht flüchten müssen. Ich konnte standhalten.
Ich erinnere mich so gut an die letzte Stunde. Ich kam an diesem Morgen mit einer großen Neugier und wenig Angst in die Stunde. Ich war bereit. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, worüber wir sprachen. Es ging darum, was in diesen Jahren mit mir geschehen war und wo ich jetzt, heute Morgen, in meinem Leben stand. Ich erinnere mich, dass ich in dieserletzten Stunde nicht erzählte, dass ich mich zuvor um eine neue Stelle beworben hatte. Das war nun mein eigenes Leben. Und ich weiß noch glasklar, als wäre es gestern gewesen, mit welchem Gefühl ich mich verabschiedete, es blieb wochenlang präsent. Ich erlebte ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit, Verbundenheit und von Ebenbürtigkeit mit meiner Analytikerin. Wir verabschiedeten uns auf gleicher Augenhöhe, beide mit nass schimmernden Augen. Ich war wehmütig und glücklich zugleich. Es war ein Hochgefühl, und es dauerte sehr lange bis zum nächsten Absturz in schlimme Gefühle. Nun fühlte ich innerlich, dass ich genug standfest war, um in meinem Leben bestehen zu können. Das schönste Gefühl, das ich heute noch spüre, war jenes der Ebenbürtigkeit.«
Sigmund Freud hat das Erreichen von Lebens-, Arbeits- und Genussfähigkeit als Leitziel einer psychoanalytischen Behandlung formuliert. Diese Lebensziele werden auch heute grundsätzlich angestrebt, selbst wenn es nicht allen Menschen gelingt, sie zu erreichen. Freud hat auch geschrieben, dass er in Psychoanalysen versuche, das neurotische Elend in ein allgemein menschliches Elend zu verwandeln.
Das allgemein Menschliche in seiner Beziehung zur Analytikerin hat Pascal im obigen Beispiel in der letzten Stunde erfahren. Er spürte sich mit ihr im menschlichen Streben, mit Liebe und Tod, mit Angst und Schrecken, mit Trennung und Verlust einen Umgang zu finden, ebenbürtig. Nicht mehr das »Warum lebe ich?« war ihm wichtig, sondern das »Wie lebe ich?«. Hier war sein Gestaltungsraum.
Eine Psychotherapie ist wie das Leben von endlicher Dauer. Wie dieses eröffnet sie einen riesigen Spielraum von Gestaltungsmöglichkeiten. Die Vielfalt des Erlebens von Zeit und von Raum in Beendigungsprozessen ist eine großartige Herausforderung, sich selbst auf eine neue Art kennenzulernen. Selbstverständlich sind solche Prozesse mit Schmerzen und mit Trauer verbunden. Es gibt keinen Grund, Abschiede zu idealisieren. Sie jedoch bloß als grausame Notwendigkeit, als tiefen Schmerz und endlose Trauer zu beklagen, nimmtder Fülle des Lebens und der aktuellen Wirklichkeit – dem Köstlichsten, was wir haben – die Tiefe und die Würze.
Auf die endliche Psychotherapie oder Psychoanalyse folgt die unendliche, also die lebenslange Arbeit an sich selbst. Eine Psychotherapie ist keine Reparatur, die ein für alle Mal Schäden behebt und vor Rückfällen schützt. Sie ist eine lebendige und wandelbare Entwicklung eines Menschen, der weiteren Schwankungen, Veränderungen und Rückfällen ausgesetzt ist. Die Heilung ist immer eine vorläufige und teilweise. Es ist ein lebenslanges Üben nötig, um auf dem Surfbrett des Lebens mit den Wellen spielen zu können und nicht von ihnen beherrscht zu werden.
Es ist genug
Es ist genug . Welche Gefühle empfinden wir dabei? Was verstehen wir darunter? Was möchten wir darunter
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