Die Kunst des guten Beendens
einer bestimmten Lebensphase Probleme verursachen, die nicht mehr gelöst werden können.
Um das am Thema dieses Buches darzustellen: Wenn selbst die alltäglichen, kleinen, aber wichtigen Beendigungen im Tagesablauf bewusstgemacht und gestaltet werden, ergibt sich daraus mit der Zeit eine Kompetenz. Es ist die Fähigkeit, Handlungsbögen wahrzunehmen und vom Beginn bis zum Beenden zu realisieren.
Sabine, eine berufstätige, verheiratete Frau mit Kind, muss sich am Morgen aus dem Schlaf und aus dem Bett verabschieden, weil der kleine Urs wach ist und Hunger hat. Das Frühstück will zubereitet und eingenommen, der Tisch abgeräumt werden. Ihr Mann Paul bringt den kleinen Urs in die Krippe und Sabine erledigt den Haushalt und macht sich für die Arbeit bereit. Hat sie nichts vergessen und alle morgendlichen Handlungsabläufe beendet? Sie fährt zur Arbeit als Telefonistin. Es ist ein täglicher Versuch, mit allen kleinen Störungen fertig zu werden und sich nicht darin zu zerstreuen und zu verlieren. Auf demHeimweg nutzt sie die Fahrt zur innerlichen Beendigung der Arbeit und zur Umstellung auf die Rolle als Ehefrau und Mutter. Es sind vielfältige Anforderungen, die ihr Freude machen, seitdem sie gelernt hat, die Phasen der verschiedenen Tätigkeiten bewusst wahrzunehmen – zu beginnen, auszukosten und danach zu beenden. Sei es das Nachtessen, das Gute-Nacht-Ritual mit Urs, das abendliche Glas Wein und Gespräch oder Fernsehen mit Paul, bis hin zum Abschluss des Tages.
Das bewusste Gestalten der Übergänge tut ihr gut. Sie lässt sich nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen bzw. stören. Mittlerweile schafft sie es immer besser, einen Gedanken zu Ende zu denken, einem Gefühl seinen Lauf zu lassen und selbst eine kleine Handlung zu vollenden. Ausgehen, wenn sie ausgeht; essen, wenn sie isst; lieben, wenn sie und Paul einander lieben. Immer wieder drohen Überschneidungen, Loyalitätskonflikte, Schuldgefühle. Sabine hat gelernt, ja und nein zu sagen und es danach auch so zu akzeptieren.
Aus der Abfolge der Tagesabläufe ergibt sich der Lebenslauf. Auch der Lebenslauf bringt mannigfaltige und existentielle Übergänge mit sich, die immer dem Phasenablauf des Beendens und neuen Beginnens folgen. In der ersten Lebenshälfte liegt die Aufmerksamkeit stärker auf dem Beginnen, in der zweiten auf dem Beenden.
Es gibt Forschungs- und Therapierichtungen, die der Zeit des Kindes im Mutterleib und der Geburt eine große, das Leben prägende Bedeutung beimessen. Winnicott (1988) spricht von der Geburt als dem ersten selbstkreativen Akt. Für die meisten Menschen beginnt ihr Leben mit der Geburt, sozusagen mit dem ersten Atemzug. Das Beenden der Zeit im Mutterleib dürfte vor allem die Mutter beschäftigen. Das Beenden einer Schwangerschaft ist ein besonderer Zeitpunkt im Leben einer Frau. Es gilt, Abschied zu nehmen von der innigen Verbundenheit mit dem Kind, das als ein Teil seiner selbst wahrgenommen wird. Mit der Geburt ist das Kind noch für eine gute Weile von Pflege und Fürsorge abhängig, doch es ist ein eigenständiges Wesen, das auch bereits seine eigenenBedürfnisse kundtun kann. Die Entwöhnung von der Brust ist für Mutter und Kind ein weiteres Beenden.
Was uns bei der Entwicklungsgeschichte des Kindes ab der Geburt interessiert, ist die Verschränkung von Beginnen und Beenden. Es gibt dazu genügend gute Forschungen und Literatur. 18 Wenn das Kind beginnt wahrzunehmen, zu erkennen, zu fremdeln liegt die Aufmerksamkeit auf dem Beginn: es ist etwas Neues möglich geworden, das vorher noch nicht war. In den ersten beiden Lebensjahren »überschlagen sich« die neuen Möglichkeiten. Fast täglich ist etwas zu entdecken und erwachen neue Ressourcen und Kompetenzen, die Menschen rundum und die Welt zu erleben. Im Normalfall. Auf Beeinträchtigungen und Störungen dieses Entwicklungsprozesses sind wir im vorherigen Kapitel eingegangen und werden es anhand bestimmter Beispiele auch wieder tun.
Das Vorwärtstreibende in der kindlichen und jugendlichen Entwicklung ist etwas Auffallendes. Der erste Schritt, das erste Wort, die Entdeckung des Spiels, der Gleichaltrigen hat etwas Faszinierendes. Es gilt im wahrsten Sinne des Wortes, die Welt zu entdecken. Und die Erwachsenen fühlen sich in der Regel wieder jung, wenn sie einen solchen Prozess aus der Nähe miterleben können. Und wieder kommen neue Anfänge: der Beginn des Kindergartens, der heiß erwartet, aber auch gefürchtet werden kann. Er führt ein Stück
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