Die Kunst des guten Beendens
früheren Übergang noch nicht möglich war.
Auch was nicht wunschgemäß eintrifft, will wahrgenommen und gewürdigt werden. Damit wird der Schritt in eine neue Lebensphase begründet, selbst wenn äußerlich alles gleich bleibt. Das Älterwerden bringt das Aufgeben desBerufes mit sich – begleitet von seelischen, körperlichen und sozialen Veränderungen, von Beeinträchtigungen und möglichen Krankheiten. Und es wird uns schließlich auch noch der Alters- und Sterbeprozess Übergangsressourcen und -kompetenzen abverlangen und uns auch immer wieder eine Chance geben, das Beenden zu lernen.
Erleben und Umgang mit Zeit
Mach es wie die Sonnenuhr,
zähl’ die heiteren Stunden nur.
Volksmund
Das Zeitempfinden eines Menschen prägt seine Wirklichkeit und damit den Umgang mit dem Beenden-Können. Die Art und Weise, wie ein Mensch auf der Tastatur seiner inneren und der vorgegebenen, aber gestaltbaren äußeren Zeit zu spielen vermag, beeinflusst das In-der-Zeit-Sein und das Verhältnis zu Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Und damit das Erleben von Beginnen und Beenden.
Die Natur gibt zeitliche Rhythmen vor. Sonnen- und Mondzyklen bestimmen Tag und Nacht, die Jahreszeiten, das Klima. Auch der Körper kennt eine innere Zeit und innere Zyklen, die mit der Natur zusammenhängen. Das Erleben von Zeit und der Umgang mit Zeit entsprechen Vorstellungen und Vorgaben, die von der Natur und der Kultur geprägt sind. Jede Kultur definiert ihr Zeitbewusstsein.
Die Globalisierung hat einen neuen Begriff von Zeit geschaffen. Sie hat die Zeit zu einer für alle Beteiligten verbindlichen Konstante gemacht. Der Umgang damit ist mit Einteilung und Begrenzung verknüpft und wird damit entscheidend für die Fähigkeit, in dieser Gesellschaft zu funktionieren, sich zu binden und zu trennen. Es wird davon gesprochen, dass man die Zeit vertreiben, sparen, komprimieren, totschlagen kann, dass sie einem davonläuft oder stehenbleibt. Innerhalb einer bestimmten Kultur gibt es zeitliche Vorgaben, an die man sich zu halten hat, doch der individuelle Erlebensraum folgt seinen eigenen Regeln.
Zeitliche Begrenzungen stellen für viele Menschen Gefahren dar: Sie werden mit Angst und Verlust verbunden. Der Glaube an eine Ewigkeit, an Unsterblichkeit, an ein Leben nach dem Tod und an Wiedergeburt lässt vermuten, dass der Mensch sich mit seiner Sterblichkeit schwertut. Den Phantasien und Wünschen nach Zeitlosigkeit, nach Unsterblichkeit, Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit steht die Wirklichkeit mit ihrer Endlichkeit und Begrenzung gegenüber.
Das Zeitempfinden entwickelt und verändert sich altersspezifisch im Laufe des Lebens. Das Neugeborene kennt noch kein Zeitempfinden. Durch Zuwendung, Pflege und Nahrungsgabe entwickeln sich erste Zeitprägungen. Im zweiten und dritten Lebensjahr werden weitere Prägungen des Zeitgefühls geschaffen. Die zunehmende Kontrolle der körperlichen Aufnahme- und Ausscheidungsvorgänge führt zu einem Bewusstsein von Dauer und von Zeit, verknüpft mit einer zunehmenden Entwicklung des motorischen und des emotionalen Bereichs und der Reflexion.
Beim Kleinkind entwickeln sich zunehmend kognitive Zeitstrukturen bis hin zum Erkennen der Uhrzeit als verbindliche Tatsache. Für das Kleinkind können auch ganz kurze Momente unendlich lang sein. Im Spiel kann die Zeit vollkommen vergessen werden – im kindlichen Spiel, im Liebesspiel oder im schöpferischen Schaffen. Für das Schulkind werden Zeiteinheiten durch Vorgaben überschaubarer und einschätzbarer. Jugendzeit, Adoleszenz, Erwachsenenalter und Altwerden sind ebenfalls durch kulturell-gesellschaftliche Vorgaben geprägt und werden gleichzeitig individuell unterschiedlich erlebt, und zwar in Abhängigkeit von der Lebensgestaltung, der Erfülltheit und den reflexiven Möglichkeiten. Die Art und Weise des Lebensstils, des Berufs und der Familie sind prägend. Altersspezifische Unterschiede zeigen sich im Hinblick auf das Erleben der Zeitspanne, dievor einem liegt: ein ganzes Leben, ein halbes Leben, Alter und Tod. Und im Blick auf die Zeitspanne, die bereits hinter einem liegt.
Im täglichen Leben verändert sich das subjektive Bewusstsein von Zeit je nach Tätigkeit. Das Zeitgefühl stimmt mit der Uhr überein, erscheint kürzer oder länger oder wird völlig ausgeschaltet. Sei es Arbeit, Freizeit, Schlaf, bei starker Belastung, im Flow bei einer kreativen Arbeit, in der Liebe, in guter Gesellschaft: das Zeitempfinden kann sich innerhalb kurzer Zeit ändern,
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