Die Kunst des guten Beendens
es kann längere Zeit dasselbe bleiben und auch ganze Lebensphasen bestimmen.
Es wurde bereits erwähnt, dass Menschen um die vierzig oft mit ihren aus der Kindheit mitgebrachten Bindungs- und Trennungsmustern in ihrem Leben nicht weiterkommen. Sie haben so lange funktioniert, wie radikal nach »vorne« gelebt werden konnte. Nun eröffnen sich erste Begrenzungen. Da können sich auch bei frohen, unternehmungslustigen Menschen innere Abgründe öffnen und Panik, Ängste und Depression auftreten. Es ist auch die Zeit, wo alte Familiengeheimnisse endgültig ans Tageslicht drängen und frühere Erlebnisse noch einmal reflektiert und durchgearbeitet werden wollen.
Menschen, die immer schon ihre Rollen und Aufgaben reflektieren konnten, haben bessere Chancen, mit den eigenen und den gesellschaftlichen Veränderungen einen Umgang zu finden.
Bei psychisch gesunden Menschen können die grundlegenden zeitlichen Maßstäbe in der Regel ohne besonderen Aufwand akzeptiert werden. Termine und Verabredungen werden weitgehend als verpflichtend erlebt und auch eingehalten. Die Bewältigung von zeitlichen Vorgaben gelingt, wenn eine flexible Anpassung an verschiedene Bedingungen von Zeit möglich ist. Die innere unbewusste Uhr ist ein wichtiges Zeichen für gut funktionierende Zeitstrukturen und eine grundsätzliche Voraussetzung für die Trennungsfähigkeit eines Menschen.
Andernfalls können wir von einem Trennungskonflikt und von Störungen des Zeitgefühls sprechen, wenn die Zeitgestaltung nicht eingehalten wird, überbordet oder nicht ausgefüllt werden kann und in einem auffälligen Kontrast zu den kulturellen, vereinbarten Mustern steht. Bei vielen psychischen Störungen (meist aufgrund früherer unsicherer Bindungserfahrungen) ist die Einstellung zu dem, was eigene und vorgegebene Zeit bedeutet, beeinträchtigt. Demzufolge ist auch der Umgang mit der Zeit gestört. Pathologische Ambivalenz (bei Zwangsstörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und Psychosen) bringt einen in der Regel gestörten Umgang mit der Zeit mit sich. Die Zeit wird zum Verfolger, der zu vermeiden, zu vernichten, zu entwerten oder auch zu idealisieren ist. Es wird von unerträglicher Leere, von Lähmung, von unbändiger Unruhe, von Panik, von Grenzenlosigkeit gesprochen. Es gibt keinen angemessenen Raum für ein Nebeneinander und ein Nacheinander. Man fühlt sich als Hamster im Tretrad. Die Zeiträume können nicht zu Spiel- und Denkräumen werden. 20
Das moderne Leben ist von heftiger Beschleunigung geprägt. Die Geschwindigkeit und Hektik der Informationsgesellschaft kann zu Beeinträchtigungen des Zeitgefühls und zu einer psychischen und sozialen Überforderung des Menschen führen. Die eigene innere Zeit kann nicht mehr gespürt und wahrgenommen werden. Es gibt nur noch den Druck von außen. Das führt zu einer Entfremdung, zu Auslaugung und Entkräftung. Es kann nicht mehr in der eigenen Zeit aufgetankt werden.
Eine langjährige psychische und physische Verausgabung aufgrund zunehmender Lebensgeschwindigkeit kann sich in Form einer Krise oder eines Zusammenbruchs manifestieren. Es ist für viele Menschen nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar, dass gewisse seelische Lebensprozesse (sich entwickeln, sich trennen, trauern, heilen, sich neu ausrichten) einen langen Atem und eine längere Zeitdauer brauchen, um nachhaltig bewältigt zu werden. Um ein extremes, aber schoneinige Male gehörtes Beispiel zu nennen: In einer Zeit, wo sich jemand per SMS aus einer Liebesbeziehung abmeldet und sich übers Internet scheiden lässt, scheint der seelische Erlebensraum verloren gegangen zu sein.
Gleichzeitig werden Psychotherapien immer kürzer, sei es, weil die Betroffenen die Zeit dafür nicht mehr aufbringen wollen, sei es, weil die Kostenträger ebenfalls der Ansicht sind, dass seelische Wandlungen in wenigen Therapiestunden bewirkt werden können.
Das Unbewusste kennt keine Zeitstrukturen und kann nicht zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden. Dies wird anhand von Freuds Übertragungsbegriff (ein Mensch überträgt frühere psychische Muster auf aktuelle Beziehungen, ohne sich dessen bewusst zu sein) und seines Konzepts vom Wiederholungszwang (frühere Muster werden unbewusst auf aktuelle übertragen) ersichtlich. Es wird in Träumen deutlich, wo verschiedene Figuren und Orte aus unterschiedlichen Lebensphasen miteinander verschmelzen. Die Zeiten vermischen sich.
Die Fähigkeit zur zeitlichen Unterscheidung von
Weitere Kostenlose Bücher