Die Kunst des guten Beendens
Vergangenheit (was geschehen ist, was unbewusst übernommen wurde), Gegenwart (was jetzt geschieht; mit den dazugehörigen Gefühlen) und Zukunft (was erhofft, phantasiert, befürchtet und idealisiert und manchmal mit der Gegenwart verwechselt wird) ist wichtig, um in der Gegenwart leben zu können.
Ein Beispiel: Nehmen wir die Romanfigur Philipp Perlmann, einen Mann, der »es gewohnt war, dass die Dinge keine Gegenwart für ihn hatten«. 21 Die unbewältigte Vergangenheit – seine Frau, die ihm Gegenwart erobert und vermittelt hatte, war gestorben, die Tochter ausgezogen – und seine große Angst vor dem Versagen, vor der Zukunft ließen ihn noch mehr als bisher als angstvollen Gefangenen seiner beruflichen Verpflichtungen und Zwänge leben. Und immer wieder stellt er fest und beklagt es, dass er sein wirkliches, alltägliches Leben nicht in der Gegenwart lebe. Es muss etwas geschehen. – Als renommierterSprachwissenschaftler, der dabei ist, sein ganzes Lebenswerk zu verleugnen und zu vernichten, beginnt Perlmann anhand seiner Erinnerungen – der inneren Zeit – und dank einer Weltchronik – der äußeren Zeit – seine Vergangenheit zu erschaffen. Vorläufig, ohne sie sich aneignen zu können. Es erscheint ihm alles als beliebig. Er fragt sich, ob er jemals einen wirklichen Einfall gehabt hat. Er will nie mehr an Diskussionen teilnehmen, wo doch seine eigene Meinung irgendeine Meinung sein könnte. Im Zerreißen seines Lebenswerkes und im Versuch, etwas Neues, erstmals Eigenes zu schaffen, schimmert für ihn ein Hauch Gegenwart von innen her auf; er hat sie, wie bisher von Frau und Tochter, von außen her erwartet.
Auf einmal erlebt Perlmann Zeit als etwas Inneres. Als eine Freiheit. Furchtlos und ruhig zu dem stehen, was man im Innersten ist, das war der Schlüssel zur ersehnten Gegenwart.
Die Fähigkeit, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden, macht erst ein eigenes, unverwechselbares Leben aus. Es ist auch ein Kernziel in einer Psychotherapie. Erst wenn die Unterscheidung gelingt, kann mit voller Konzentration in der Einzigartigkeit des Hier und Jetzt gelebt werden. Die Zukunft entsteht aus der Gegenwart. Die Gegenwart enthält die Vergangenheit, nicht als Fessel, nicht als Schrecken und Verletzung, sondern als Kapital, mit dem man wuchern kann. Die Gegenwart hat aber auch eine ganz eigene Verheißung. Sie bedeutet, sich auf den gegenwärtigen Moment voll und ganz einzulassen.
3. Trennung und Bindung
Wenn Erwachsene sich binden und trennen
Liebster, ich lade dich ein, komm in das Haus unserer Wünsche, und häng deinen Hut an die Wand, den Hut mit dem kleinen Schussloch.
Liebster, nimm deinen Hut von der Wand, den Hut mit dem kleinen Schussloch.
Hilde Domin
Ein Mensch entwickelt sich im Feld von Interaktionen mit anderen Menschen. Frühe Bindungserfahrungen stellen, wie erwähnt, gewisse Weichen. Unsichere frühe Bindungen können im weiteren Lebensprozess bewusstes, angemessenes und lösungsorientiertes Bindungs- und Trennungsverhalten behindern und einschränken.
Unsichere Bindungen schränken auch die Reflexionsfähigkeit ein, das heißt die Möglichkeit, die Ereignisse des Lebens zu reflektieren, zu formulieren und zu symbolisieren. Es kommt schnell zu emotionaler Überforderung, ein Mensch verschließt sich, die Ebenen und Zeitbezüge werden gewechselt, ohne dass es zu einem Einvernehmen oder zu einer Lösung kommen kann. Unsichere Bindungsmuster gehen immer mit Angst einher, die den Aufbau eines stabilen, integren Selbst und vor allem die Kontrolle der Affekte und Impulse erschwert.
Sichere und unsichere Bindungsmuster sind aber nicht unabänderlich festgelegt. Sie können durch neue Erfahrungen – zum Beispiel in besseren familiären und anderen Lebensbedingungen, durch neue Beziehungen, durch eine Psychotherapie – verändert und verbessert werden. Was helfen kann, sind über längere Zeit stabile (auch therapeutische) Bezugspersonen bzw. eine würdigende, wertschätzende Präsenz, dieSicherheit und Respekt vermitteln und dadurch langfristig neue Beziehungserfahrungen ermöglichen.
Sichere Bindungsmuster ermöglichen ein komplexes Erleben von Intersubjektivität, nämlich die Erfahrung, sich selbst und den anderen als selbständige Subjekte zu erleben. Die Bindung, die sich durch Anerkennung und Wertschätzung auszeichnet, wird dadurch zur Beziehung.
Ich möchte in Ergänzung der Muster von kindlichen Bindungs- und Trennungserfahrungen Erfahrungs- und
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