Die Kunst des guten Beendens
Trauerarbeit und erinnernder Loslösung vom Vergangenen – und in diesem Sinn schöpferische Akte. Das Erinnern und Erzählen beschreibt eine Bewegung, verändert das Selbst und schafft Platz für neue Beziehungen.
Wenn Trauer nicht möglich ist
Elfriede Jelinek hat in ihrem Buch Die Klavierspielerin ein schmerzliches Beispiel dafür geliefert, wie ohne Trauer kein Beenden des sadomasochistischen Leidens ihrer Protagonistin Erika möglich ist.
Erika ist Ende dreißig, Klavierlehrerin am Konservatorium in Wien, wohnt noch immer bei ihrer alten Mutter. Nicht nur das: sie wurde von ihrer Mutter ein Leben lang dressiert und triebfeindlich gedrillt, oral verwöhnt, kontrolliert und terrorisiert. Die beiden schlafen im selben Bett. Mit Lügen schafft sich Erika den Zugang zu ihren perversen Wünschen: Peep-Shows und die Beobachtung von Liebespaaren im Park. Sie hasst alle jene, die etwas haben, was sie nicht hat.
Als sich ein Schüler, Klemmer, in sie verliebt, erhofft sie sich einen »Höhepunkt aller denkbaren Gehorsamkeiten«. 33 Die größte Lust für sie ist die der totalen Selbsterniedrigung. Sie frustriert und demütigt Klemmer. Sie muss ihn zuerst zerstören, damit er danach zum Übermächtigen wird, der sie vernichten kann. Er spielt nicht mit und rächt sich, indem er sie vergewaltigt. Damit kränkt er Erika zutiefst, und das Buch endet damit, dass sie sich das Messer, mit dem sie Klemmer töten wollte, in die eigene Schulter stößt.
Erikas Vater war nach ihrer Geburt geisteskrank geworden. »Erika trat auf, der Vater ab«. 34 Im Ehebett der Mutter, in dem Mutter und Tochter schlafen, werden die zentralen Unterschiede, die die psychosexuelle und emotionale Entwicklung des Menschen vorantreiben, ausgelöscht: der Unterschied zwischen Eltern und Kind (Generation), zwischen Mann und Frau sowie zwischen Vater und Mutter (Geschlecht).
Die Verleugnung des Generations- und Geschlechtsunterschieds ist im Leben eines Menschen immer schwerwiegend und traumatisierend. Erika kann sich psychosexuell nicht entwickeln und bleibt in einer imaginären Einheit mit der Mutter – die nie abwesend war und ist – verbunden. So kann sich ihre Libido nicht auf einen anderen, neuen Menschen – Klemmer – richten. Sie bleibt an die Mutter gebunden und ist damit ein Opfer imaginärer Verwirrungen: sie ist erwachsen (im Beruf), sie ist Kind (bei der Mutter), als Frau ist sie Mann (im Ehebett der Mutter), als ebendieser Mann ist sie Frau. In ihrer Ab-Erkennung des Generations- und Geschlechtsunterschied reagiert sie mit zerstörerischer Gier auf alles, was sie nicht haben kann. Die Alternative wäre Trauer. Trauer darum, nicht die Mutter lieben zu können, Anerkennung des Generations- und Geschlechtsunterschieds. Und weil sie nicht trauern und symbolisieren kann, macht sie es real: Sie schneidet sich mit Vaters Messer in die Schamlippen. Die Schlachtszene meint die Trennung von Frau und Mann, von Tochter und Mutter. Oder wie es Mahler-Bungers ausdrückt: sie geschlechtet sich, indem sie sich schlachtet. 35 Der Text macht die Leserin zur sadomasochistischen Voyeurin. Es ist ein fast unerträgliches Lesen.
Dann tauchen im Text leicht verfremdete Zeilen aus der Winterreise von Schubert auf. Texte von Wilhelm Müller, wo er die Sehnsucht und Hoffnung, die Täuschung und Resignation eines Wanderers schildert, der eines tun muss: trauern, damit er sich vom geliebten Menschen trennen kann. Der Dritte, der Ausgestoßene – das ist der Wanderer (Schubert bzw. Müller), hier Erikas Vater. Und mithilfe des Dritten gibt es einen Weg, aus dem masochistischen und bitteren Unterfangen, ausdiesem ganz und gar tödlichen Text zu entkommen. Das Tödliche des Textes hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in diesem Roman nie und von niemandem um Verletzungen und Verluste getrauert wird. Ohne Trauer bleibt der Schrecken erhalten.
Autoritäre und unselbständig erzogene Menschen sind unfähig zu trauern . Das haben auch Margarethe und Alexander Mitscherlich in ihrem gleichnamigen Buch belegt. 36 Weil solche Menschen dazu konditioniert werden, unhinterfragt Normen und Tabus zu übernehmen, neigen sie zu Verdrängung und Abwehr. Gleichzeitig sind sie schnell zu Aggression und Brutalität bereit. Anstelle von Einfühlung gibt es einzig Projektion, und der Mangel an Befriedigung wird durch Aggression ersetzt.
Trauer kann sich verstecken. Hinter Verdrängung, Abwehr und lauernder Aggression. Hinter Ängstlichkeit, Besorgtheit und Beunruhigung, sei es
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