Die Kunst des klugen Handelns: 52 Irrwege, die Sie besser anderen überlassen (German Edition)
reagieren wir kalt. Auf Menschen hingegen – erst recht auf tote – höchst emotional.
Der Grund: Wir konnten seit Urzeiten nur in Gruppen überleben. Im Verlauf der letzten 100.000 Jahre haben wir deshalb einen exquisiten Sinn dafür entwickelt, wie andere denken und fühlen. Die Wissenschaft nennt dies »Theory of Mind«. Dazu ein Experiment: Ich gebe Ihnen 100 Euro. Diese müssen Sie mit einem Fremden teilen. Sie schlagen vor, in welchem Verhältnis. Wenn der andere Ihren Vorschlag annimmt, wird das Geld genau so aufgeteilt. Wenn der Fremde Ihren Vorschlag ablehnt, müssen Sie mir die 100 Euro wieder zurückgeben, und niemand hat etwas verdient. Welchen Vorschlag machen Sie Ihrem Gegenüber?
Rational wäre es, dem Fremden ganz wenig, vielleicht einen Euro zu offerieren, ist es doch für ihn besser, wenigstens dies als gar nichts zu bekommen. Als die Ökonomen in den 80er-Jahren begannen, mit diesem Ultimatumspiel (so der wissenschaftliche Name) zu experimentieren, zeigten die Versuchspersonen ein ganz anderes Verhalten: Sie boten der Gegenpartei zwischen 30 % und 50 % an. Alles unter 30 % wurde als »unfair« empfunden. Das Ultimatumspiel ist eine der klarsten Manifestationen der »Theory of Mind«: Man fühlt mit dem Gegenüber mit.
Eine winzige Änderung des Spiels allerdings genügt, damit von der Großzügigkeit nicht mehr viel übrig bleibt: Man steckt die beiden Spieler in separate Räume. Wenn Menschen ihr Gegenüber nicht sehen können und auch vorher nie gesehen haben, dann schaffen sie es kaum, die Gefühle des andern zu simulieren. Das Gegenüber bleibt abstrakt, und die Offerten, die man ihm macht, sinken im Schnitt auf weniger als 20 %.
Der Psychologe Paul Slovic bat Menschen in einem Experiment um Spenden. Einer Gruppe zeigte Slovic das Foto von Rokia aus Malawi, einem abgemagerten Kind mit flehenden Augen. Im Durchschnitt spendeten die Leute zweieinhalb Dollar für die Hilfsorganisation. Einer zweiten Gruppe servierte Slovic Statistiken über den Hunger in Malawi – mehr als drei Millionen unterernährte Kinder. Die Spendenbereitschaft lag um 50 % niedriger. Erstaunlich: Eigentlich sollte die Freigebigkeit doch steigen, wenn das wahre Ausmaß der Katastrophe offensichtlich wird. Doch so ticken wir nicht. Statistiken lassen uns kalt. Menschen nicht.
Die Medien wissen schon lange, dass mit Tatsachenberichten und Balkendiagrammen keine Leser zu gewinnen sind. Also lautet die Devise: Kein Artikel ohne Namen, keiner ohne Gesicht! Geht es um eine Aktie, wird der CEO ins Zentrum gerückt (je nach Kurstendenz lachend oder verhärmt). Geht es um einen Staat, muss dessen Präsident ins Blatt. Bei einem Erdbeben muss ein Opfer her.
Diese Fixierung auf Menschen erklärt den Erfolg einer der wichtigsten kulturellen Erfindungen – des Romans. Diese literarische »Killer App« macht zwischen- und innermenschliche Konflikte an wenigen Einzelschicksalen fest. Über die psychologischen Foltermethoden des puritanischen Neuenglands hätte man eine Dissertation schreiben können – stattdessen lesen wir bis heute Hawthornes Der scharlachrote Buchstabe . Und die Depression der 30er-Jahre? Als Statistik eine reine Zahlenreihe. Als Familiendrama unvergesslich – wie in Steinbecks Früchte des Zorns .
Fazit: Seien Sie vorsichtig, wenn Ihnen Einzelschicksale serviert werden. Fragen Sie nach den Fakten und der statistischen Verteilung dahinter. Das Einzelschicksal wird Sie deswegen nicht kaltlassen – aber Sie können es in den richtigen Kontext setzen. Sind Sie hingegen nicht Rezipient, sondern verfolgen Sie eine eigene Agenda, sprich möchten Sie Menschen bewegen, aufrütteln, motivieren – dann sorgen Sie dafür, dass es ordentlich menschelt.
WARUM KRISEN SELTEN CHANCEN SIND
Was-mich-nicht-umbringt-Trugschluss
Als ich Sandra vor zehn Jahren kennenlernte, strotzte sie vor Lebenslust. Eine entzückende, intelligente, junge Frau, die sämtliche theoretischen Gedanken zum Verblassen bringen konnte. Sandra heiratete – einen Wirtschaftsprüfer, was nichts heißen will. Zwei Jahre später erkrankte sie an Brustkrebs Typ 5, der schrecklichsten Art. Mitten während der Chemotherapie hatte ihr Mann eine Affäre. Sandra fiel in eine Depression, und in der Folge gelang es ihr nie mehr, einen Job länger als sechs Monate zu halten. Heute ist sie ein armseliger Schatten ihres früheren Selbst. Als ich sie kürzlich besuchte – sie ist geschieden und lebt allein –, sagte sie: »Ich war so nah am Tod. Aber
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