Die Kunst des Pirschens
in allen meinen Handlungen vorsichtig und besonnen zu sein, damit ich nicht vergeblich meine Lebenskraft erschöpfe. Er sagte, die unerlässliche Voraussetzung für den Eintritt in jede der drei Formen der Aufmerksamkeit sei der Besitz dieser Lebenskraft, denn ohne sie hätten die Krieger kein Ziel und keinen Sinn. Auch beim Sterben, so erklärte er, tritt unsere Bewußtheit in die dritte Aufmerksamkeit ein; aber nur für einen Augenblick, als Reinigung, kurz bevor der Adler sie verschlingt.
La Gorda sagte, der Nagual Juan Matus habe jeden der Lehrlinge das Träumen erlernen lassen.
Sie glaubte, daß die anderen zur gleichen Zeit wie ich vor diese Aufgabe gestellt worden waren.
Auch ihre Unterweisung war aufgeteilt in jene der rechten und der linken Seite. Der Nagual und Genaro, so sagte sie, überwachten die Unterweisung für den normalen Bewusstheitszustand. Als sie meinten, daß die Lehrlinge bereit wären, ließ der Nagual sie in einen Zustand gesteigerter Bewußtheit überwechseln und überließ sie ihren jeweiligen Gegenspielern. Vicente lehrte Nestor, Silvio Manuel lehrte Benigno, Genaro lehrte Pablito. Lydia wurde von Hermelinda unterwiesen, und Rosa von Nelida. Und la Gorda fügte noch hinzu, daß sie selbst und Josefina der Obhut Zuleicas anvertraut wurden, um zusammen die schwierigsten Fragen des Träumens zu erlernen, damit sie mir eines Tages zu Hilfe kommen könnten.
Außerdem war la Gorda von sich aus zu dem Schluß gelangt, daß die Männer Florinda anvertraut wurden, um bei ihr das Pirschen zu lernen. Der Beweis dafür waren die tiefgreifenden Veränderungen ihres Verhaltens. La Gorda selbst behauptete, sie habe, schon bevor sie sich an etwas erinnern konnte, gewußt, daß sie in den Prinzipien des Pirschens unterwiesen wurde, allerdings auf recht oberflächliche Weise; man hatte sie nicht üben lassen, während die Männer praktische Kenntnisse lernten und Aufgaben erhielten. Der Beweis war ihre Verhaltensänderung. Sie wurden fröhlich und umgänglich. Sie freuten sich ihres Lebens, während la Gorda und die anderen Frauen aufgrund ihres Träumens immer schwermütiger und depressiver wurden.
La Gorda glaubte, die Männer würden sich nicht an ihre Unterweisung erinnern können, falls ich sie bäte, mir ihr Wissen über das Pirschen zu verraten, weil sie es damals praktizierten, ohne zu wissen, was sie taten. Ihr Training zeigte sich aber in ihrem Umgang mit den Menschen. Sie waren vollendete Künstler darin, sich die Menschen gefügig zu machen. Durch ihre Übung im Pirschen hatten die Männer sogar die kontrollierte Torheit erlernt. Zum Beispiel taten sie so, als ob Soledad Pablitos Mutter wäre. Jeder außenstehende Betrachter mochte glauben, sie wären Mutter und Sohn, die sich zankten, während sie in Wirklichkeit nur eine Rolle spielten. Sie überzeugten jeden. Manchmal gab Pablito eine so vollendete Vorstellung, daß er sogar sich selbst überzeugte.
La Gorda gestand mir, daß sie alle mehr als verwundert über mein Verhalten waren. Sie wußten nicht recht, ob ich verrückt oder selber ein Meister der kontrollierten Torheit sei. Ich gab mir äußerlich ganz den Anschein, als glaubte ich an ihr Theater. Soledad sagte ihnen, sie sollten sich nicht von mir täuschen lassen, ich sei tatsächlich verrückt. Anscheinend hätte ich alles unter Kontrolle, aber ich sei so völlig verwirrt, daß ich nicht wie ein Nagual handeln könne. Sie gab jeder der Frauen den Auftrag, mir einen tödlichen Schlag zu versetzen. Sie sagte ihnen, daß ich dies selbst einmal, als ich noch im Besitz meiner Fähigkeiten war, so verlangt hätte.
La Gorda sagte, sie habe etliche Jahre gebraucht, um unter Zuleicas Führung das Träumen zu lernen. Als der Nagual Juan Matus meinte, daß sie genügend Erfahrung habe, führte er sie schließlich ihrer eigentlichen Gegenspielerin, Nelida, zu. Nelida war es, die ihr zeigte, wie sie sich in der Welt verhalten müsse. Sie erzog sie nicht nur dazu, sich in westlicher Kleidung wohl zu fühlen, sondern vermittelte ihr auch einen guten Geschmack. Als sie daher in Oaxaca ihre städtischen Kleider anlegte und mich mit ihrem Charme und ihrer Ausgeglichenheit verblüffte, hatte sie bereits einige Erfahrung mit solchen Verwandlungen.
Zuleica als meine Führerin in die zweite Aufmerksamkeit war sehr erfolgreich. Sie bestand darauf, daß unsere Interaktionen nur in der Nacht und nur bei völliger Dunkelheit stattfanden.
Für mich war Zuleica nur eine Stimme im Dunkel, eine Stimme,
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