Die Kunst des Pirschens
Orangerot auftauchen würde.
Zuleica sprach sehr leise, mit gleichmäßiger Betonung. Ich hörte jedes Wort, das sie sagte. Die Dunkelheit um mich her schien jeden ablenkenden äußeren Reiz wirksam zu unterdrücken. Ich hörte Zuleicas Worte wie in einem Vakuum. Und dann erkannte ich, daß die Stille in diesem Saal der Stille in mir selbst entsprach.
Zuleica erklärte, ein Träumer müsse von einem farbigen Punkt ausgehen. Starkes Licht oder unmäßige Dunkelheit seien für den Träumer beim ersten Anlauf nutzlos. Farben wie Purpur oder Hellgrün oder sattes Gelb dagegen seien erstaunlich gute Ausgangspunkte. Sie selbst aber bevorzuge Orangerot, denn sie habe die Erfahrung gemacht, daß diese Farbe ihr das stärkste Ruhegefühl schenkte. Sie versicherte mir, wenn es mir erst gelungen sei, in die orangerote Farbe einzutreten, dann würde ich meine zweite Aufmerksamkeit für immer gesammelt haben - vorausgesetzt, daß ich mir die Reihenfolge der körperlichen Empfindungen bewußt machen könne.
Ich brauchte mehrere Sitzungen mit Zuleicas Stimme, um mit meinem Körper zu erkennen, was sie von mir zu tun verlangte. Daß ich mich in einem Zustand gesteigerter Bewußtheit befand, war insofern von Vorteil, als ich meinen Übergang vom Zustand der Wachsamkeit in einen Zustand des Träumens verfolgen konnte. Unter normalen Bedingungen ist dieser Übergang verwischt, aber unter diesen besonderen Umständen spürte ich tatsächlich im Verlauf einer Sitzung, wie meine zweite Aufmerksamkeit die Kontrolle übernahm. Der erste Schritt war eine ungewöhnliche Atembeschwerde.
Ich hatte keine Schwierigkeit beim Ein- oder Ausatmen; ich hatte keine Atemnot, vielmehr wechselte mein Atem ganz plötzlich den Rhythmus. Mein Zwerchfell zog sich zusammen und zwang meinen Bauch zu raschem Vor- und Zurückschnellen. Die Folge waren die raschesten, kürzesten Atemzüge, die ich jemals gemacht habe. Ich atmete mit dem unteren Teil meiner Lunge und spürte einen starken Druck auf meine Eingeweide. Ich versuchte - erfolglos - die Krämpfe in meinem Zwerchfell zu unterdrücken. Je mehr ich es versuchte, desto schmerzhafter wurde es.
Zuleica befahl mir, ich solle meinen Körper tun lassen, was für ihn notwendig sei, und keinen Versuch machen, ihn zu lenken oder zu kontrollieren. Ich wollte ihr gehorchen, aber ich wußte nicht wie. Die Krämpfe, die zehn bis fünfzehn Minuten andauern mochten, verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren, und darauf folgte ein anderes, seltsames und erschreckendes Gefühl. Ich empfand es zuerst als ganz eigenartiges Jucken, als ein körperliches Gefühl, das weder angenehm noch unangenehm war; es war so etwas wie ein nervöses Zittern.
Es wurde immer heftiger, so sehr, daß ich meine Aufmerksamkeit darauf konzentrieren mußte, um festzustellen, an welcher Stelle meines Körpers dies geschah. Ich staunte über die Erkenntnis, daß es nicht irgendwo in meinem physischen Leib, sondern außerhalb stattfand, und ich es dennoch spüren konnte.
Ich mißachtete Zuleicas Anweisung, in einen Farbfleck einzugehen, der sich direkt vor mir in Augenhöhe bildete, und widmete mich ganz der Erforschung dieses merkwürdigen Gefühls außerhalb meines Körpers. Vielleicht hatte Zuleica gesehen, was mit mir vorging, denn plötzlich begann sie mir zu erklären, daß die zweite Aufmerksamkeit zu leuchtenden Körpern gehöre, ähnlich wie die erste Aufmerksamkeit zum physischen Leib. Der Punkt, wo, wie sie sagte, sich die zweite Aufmerksamkeit sammelte, befand sich genau an der Stelle, die Juan Tuma mir bei unserer ersten Begegnung beschrieben hatte, ungefähr eineinhalb Fuß vor der Körpermitte, zwischen Magengrube und Nabel, einen halben Fuß nach rechts.
Zuleica befahl mir, diesen Punkt zu massieren, ihn zu manipulieren, indem ich die Finger meiner beiden Hände an dieser Stelle bewegte, als wolle ich Harfe spielen. Sie versicherte mir, ich würde früher oder später das Gefühl bekommen, als bewegten meine Finger sich durch etwas, das von ähnlicher Konsistenz wie Wasser sei, und schließlich würde ich meine leuchtende Schale fühlen.
Zuleica warnte auch, sie würde mir, falls ich meine Finger nicht mehr bewegte, einen Schlag auf den Kopf geben. Je länger ich diese wogende Bewegung ausführte, desto näher fühlte ich das Jucken. Schließlich war es nur noch etwa fünfzehn Zentimeter von meinem Körper entfernt. Es war, als sei irgend etwas in mir zusammengeschrumpft. Ich glaubte sogar eine Vertiefung zu spüren.
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